Kurzgeschichten

Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen, Literatur

Patricia Koelle: Der Morgen von Gestern

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Leseprobe – Buchtipp – Buchhinweis – Kurzgeschichte – Füße der Sterne

Leseprobe aus dem Buch / eBook
Patricia Koelle
Die Füße der Sterne
Dr. Ronald Henss Verlag

Eine Pressestimme:
… Wenn wir genauer hinsehen, ist unser Alltag voller Wunder. Patricia Koelle zeigt uns die Magie der kleinen Dinge in ihrer zauberhaften Kurzgeschichtensammlung „Die Füße der Sterne“
Zeitschrift bella Ausgabe 2/2010, Seite 4

Der Morgen von Gestern

© Patricia Koelle

Patricia Koelle: Die Füße der SterneReni Bachmann kam an einem kalten Frühlingsmittwoch das erste Mal in ihrem Leben zu spät zur Arbeit, und sie hatte kein schlechtes Gewissen deswegen.
Wie immer weckte sie erst das ansteigende Pfeifen des alten Teekessels vollends. Es durchfuhr sie zusammen mit dem Luftzug vom offenen Fenster her frisch wie eine kalte Dusche und trug einen kleinen Triumph und eine Erwartung in den Tag. Reni hatte bereits drei elektrische Wasserkocher von ihrer Tochter geschenkt bekommen, aber sie hielt an ihrem Teekessel fest. Sein Pfiff gehörte seit ihrer Kindheit in ihre Morgen wie das Licht.
In dieser Aprildämmerung trug der Himmel zartgraue Falten und Hellgrün war über die nackten Bäume gewischt wie feuchter Staub. Die Erde roch nach frischem Kräuterbrot, als sie aus dem Haus trat. Dicke Stille lag im dünnen Nebel über den Straßen, nur weit oben zogen Kraniche mit lauten Rufen nach Norden über die Großstadt hinweg, in der sie niemals landen würden. Die Sonne war noch lange nicht aufgegangen. Es war gerade fünf Uhr vorbei, aber Reni musste um sechs im Laden sein. Wenn Herr Yilmaz vom Fruchthof kam, wurde sie gebraucht um die Paletten auszuladen, das Obst zu sortieren und die Preise zu schreiben. Reni liebte ihre Arbeit, ihre Kunden und beinahe ihren Chef.
Selten begegnete ihr um diese Zeit jemand auf der Straße. Erst am Bahnhof fanden sich sonst andere verschlafene Gesichter ein. Darum fiel ihr die kleine Gestalt schon von weitem auf. Schmal stand sie an der Ampel und sah sich ratlos um, die Arme verschränkt, als wollte sie sich darin einwickeln. Lange Haare bewegten sich im kühlen Wind um ihre Schultern. Reni schätzte sie auf etwa zwölf Jahre. Doch als sie näher kam, bemerkte sie, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Das Kind war barfuß in Pantoffeln und trug ein leichtes rosa Nachthemd mit weißer Spitze am Kragen.
„Hallo! Kann ich dir helfen?“, sprach Reni sie vorsichtig an.
Die Gestalt drehte sich rasch zu ihr um. Reni atmete scharf ein. Vor ihr stand kein Mädchen, sondern eine sehr, sehr alte Frau mit wachen, kindlichen Augen. Zart wie geträumt, aber kerzengerade. Sie zitterte vor Kälte. Reni zog hastig ihren Anorak aus und legte ihn ihr um die Schultern. Die jungen Augen sahen sie staunend und vertrauensvoll an.
„Was ist passiert? Haben Sie sich verlaufen?“
„Der Rolf hat doch gepfiffen!“
„Wo wohnen Sie denn?“, fragte Reni sanft.
„In dem großen Haus mit dem Baum. Mein großer Bruder hat gepfiffen, ich soll zum Spielen runterkommen.“ Sie rieb die Ärmel von Renis Anorak zwischen Daumen und Zeigefinger. „Wir spielen oft morgens Verstecken. Ich bin aus dem Fenster geklettert und habe mich hinter die Regentonne gehockt. Aber der Rolf hat mich nicht gefunden, und dann habe ich nicht mehr gewusst, wo das Haus ist.“
„Wissen Sie, wie die Straße heißt, in der Sie wohnen?“, fragte Reni ohne große Hoffnung.
Sie sah sich um. Kein Mensch zu sehen, nur gelegentlich zischte ein Auto die Straße entlang. Auf der einen Straßenseite verlief ein langer Park, auf der anderen standen hinter hohen Zäunen Bürogebäude mit dunklen Fenstern. Die einzige Telefonzelle in der Nähe war schon lange kaputt. Und Reni gehörte zu den Handymuffeln. Zum ersten Mal ärgerte sie sich darüber. In diesem Moment war ihr, als wäre nicht Großstadt um sie, sondern als trieben sie in einem steuerlosen Boot allein im Ozean. „Vielleicht fällt es Ihnen ein, wenn wir ein Stück gehen“, schlug sie vor. „Wie heißen Sie denn?“
„Ich bin die Lene.“
Lene würde sich eine Lungenentzündung holen, wenn sich nicht schnell eine Lösung fand. Auf den Beinen war sie erstaunlich flink, aber eine Richtung schien sie nicht zu kennen. Ihre dünnen Füße bewegten sich in den ausgetretenen karierten Filzpantoffeln leicht und bereitwillig über den Asphalt, aber Reni spürte, dass diese Schritte in eine andere Zeit gehörten, in den Garten aus Lenes Kindheit, auf das weiche Frühlingsgras, über das ihre Füße gesprungen waren, wenn Rolf nach ihr pfiff. Reni schluckte den plötzlichen Kloß in ihrem Hals hinunter.
„Wir versuchen es anders“, erklärte sie betont fröhlich und stellte sich mit Lene an den Straßenrand. Schließlich war es offensichtlich, dass eine alte Frau Hilfe brauchte, wenn sie in Pantoffeln und Nachthemd morgens um halb sechs am Straßenrand in der Kälte stand.

Wie die Geschichte weitergeht, erfahren Sie in dem Buch / eBook
Patricia Koelle: Die Füße der Sterne
Patricia Koelle
Die Füße der Sterne

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Der Text ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art nur mit Zustimmung des Verlags.

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Die Füße der Sterne

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Written by Ronald

21. März 2017 at 09:44

Veröffentlicht in Kurzgeschichten

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Eva Markert: Hölle

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Hölle

© Eva Markert

Die Stickigkeit des Raumes nahm jedem lebendigen Wesen den Atem. Die grellweiße Damastdecke lag wie ein Leichentuch über dem Tisch. Bleierne Stille lastete auf den beiden Menschen. Messer blitzten scharf im Kerzenschein und Gläser funkelten böse.
Erbsen und Reis. Wie schon so oft. Erbsen und Reiskörner konnte man gut zählen. Lustlos schob er sich eine Gabel in den Mund.
Heimlich beobachtete er sie. Zwei hektische rote Flecken glühten auf ihren Wangen. Ihre Hände bebten unaufhörlich.
Während er kaute, sah er sie weiterhin unverwandt an. Sie schien es zu bemerken, denn sie vermied es, seinen Blick zu erwidern. Angestrengt sah sie auf das armselige Häufchen Nahrung hinunter, das verloren auf ihrem großen Teller lag.
Das Schweigen im Raum dröhnte immer lauter in seinen Ohren. Was nur könnte er ihr sagen? Seine Arbeit, seine Pläne, seine Sorgen und Freuden – das alles erreichte sie schon lange nicht mehr. Was könnte er sie fragen? Sie lebte in ihrer eigenen Welt, die ihm verschlossen blieb.
Das Essen schmeckte fad. Vielleicht könnte er sie um das Salz bitten? Oder würde dies eine weitere Panikattacke auslösen? Würde sie dann diese hysterisch schrillen Schreie ausstoßen, ihn schweißüberströmt mit ihren farblosen hellen Augen anstarren, womöglich sogar wieder mal ohnmächtig werden?
Er nahm einen großen Schluck Rotwein. Das Essen war wirklich fast ungenießbar. Vielleicht sollte er aufstehen, halb um den Tisch herumgehen und sich das Salz selbst nehmen? Oder würde sie dann aufspringen, in ihr Zimmer flüchten und die Tür hinter sich abschließen?
Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn er sich einfach quer über den Tisch lehnte, um an das Salzfässchen heranzureichen. Gleich würde er es tun, wenn sie wieder mit Zählen beschäftigt war.
Was hatte bloß ihre Furcht vor ihm ausgelöst? Er konnte sich an kein besonderes Ereignis erinnern. Vielmehr hatte es schleichend begonnen. Über ihre Vergangenheit wusste er zum Beispiel fast nichts. Warum hatte sie sich damals überhaupt an ihn gebunden? Fragen über Fragen! Sie war immer geheimnisvoll und ein ihm unbekanntes Wesen geblieben. Vielleicht war es sogar das, was ihn am Anfang an ihr fasziniert hatte. Aber nun schien ihre Gedankenwelt milchig und trüb.
Und was sah sie jetzt in ihm? Es war fast unmöglich, etwas von dem zu erspüren, was wirklich in ihr vorging. Nur dass sie Gefangene in ihrem eigenen undurchdringlichen Irrgarten der Angst war, das fühlte er.
Eigentlich gab es nur eins, das er genau wusste: sie hatte Geld, sehr viel Geld sogar!
Widerwillig nahm er den nächsten Bissen. Ein Reiskorn kitzelte ihn im Hals und er verschluckte sich. Gegen seinen Willen musste er heftig husten, er räusperte sich, hustete erneut. Vergebens bemühte er sich, dagegen anzukämpfen. „Verzeihung!“, röchelte er, ehe sie zu schreien beginnen und mit lautem Klirren ihre Gabel auf den Teller fallen lassen konnte. „Es ist nur ein Reiskorn.“
Aber merkwürdigerweise reagierte sie kaum. Sie nickte und lächelte und beschäftigte sich weiter mit ihrem Essen. Sie nickte und lächelte oft, ganz gleichgültig, was er sagte. Vielleicht hatte sie heute einen verhältnismäßig guten Tag. Vielleicht würde er gleich sogar ein wenig mit ihr sprechen können. Es musste ihm nur noch etwas einfallen, was er ihr sagen könnte.
Er hielt für einen Augenblick inne und warf einen lauernden Blick auf die schmächtige Gestalt, die ihm gegenüber saß.
Vorsichtig führte sie ihre Gabel zum Mund. Ihre Hand zitterte dabei so sehr, dass die drei Erbsen bedenklich hin und her rollten. Langsam, langsam! Nur keine Aufmerksamkeit erregen! Fast hätte sie erleichtert aufgeatmet, als die drei kleinen grünen Kugeln endlich sicher in ihrem Mund verschwunden waren. Bedächtig kaute sie. Neunundzwanzigmal, so wie immer. Im Geiste zählte sie mit: 17, 18 – von den drei Erbsen war schon längst nichts mehr übrig – 20, 21 – sie biss sich auf die Zunge – 23, 24 – es tat weh – 26, 27 – nur nichts anmerken lassen! – 28 – 29 – geschafft!
Nun war wieder eine Gabel mit fünf Reiskörnern an der Reihe. Dann wieder drei Erbsen. Und schließlich, nach sieben mal drei Erbsen, kam der Schluck Wein. Dann begann der Zyklus von neuem: drei Erbsen – fünf Reiskörner … Es war immer so schwierig, beim Essen den Überblick zu behalten! Niemand durfte sie dabei ablenken. Vor allem er nicht!
Bevor sie ihre Augenlider wieder senkte, wagte sie einen schnellen Blick. Da saß er mit seinen rabenschwarzen Haaren, den Rücken dem lodernden Kaminfeuer zugewandt. Er aß. Wie ein Mensch aß er, umglüht von einer Aura aus Feuerschein. Die leibhaftige Ausgeburt der Hölle.
In ihrem Grauen fasziniert stockte sie. Kleine Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Sie fröstelte.
Sie musste schnell weiteressen. Sorgfältig legte sie sich die drei Erbsen zurecht, um sie diesmal aufzuspießen. So selbstverständlich wie möglich schob sie die Gabel in den Mund. Vorsicht, Vorsicht! Sie durfte nicht auffallen, damit er sie um Gottes willen nicht ansah mit seinen Augen! Es waren diese Augen, die ihr am meisten Angst machten.
Wann war er eigentlich zu ihr an den Tisch gekommen? Sie konnte sich gar nicht daran erinnern. War sie nicht eben noch allein gewesen, hier in diesem Raum, der von staubiger Düsternis erfüllt war? Aber so war es immer. Aus dem Nichts konnte er sich materialisieren. Plötzlich stand er da, berührte sie, sprach zu ihr, bedrohte sie, um genau so plötzlich wieder im Nichts zu verschwinden. Er konnte in Dimensionen eindringen, die Sterblichen verborgen blieben. Er konnte sich unsichtbar machen. Deshalb verbreitete er tödlichen Schrecken, selbst wenn er nicht anwesend war. Und deshalb würde sie ihm auch niemals, niemals ganz entkommen können.
Fünf Reiskörner. Es gelang ihr nicht, fünf Reiskörner abzuzählen und auf die Gabel zu schieben. Der Reis klebte in Klümpchen zusammen. Sie stöhnte leise und schrak sofort zusammen. Sie durfte doch keine Geräusche verursachen!
Aber es war schon zu spät. Er hatte sie bemerkt. Er sprach zu ihr. Seine kehlige Stimme überzog ihren Leib mit Gänsehaut. Sie verstand nicht, was er sagte. Sie wollte es auch gar nicht verstehen. Sie wünschte sich nur eins: dass er schwieg, dass die Stimme, diese heisere Stimme, die nicht die Stimme eines Menschen war, wieder verstummte.
Sie nickte und versuchte zu lächeln. Nicken und Lächeln, damit gelang es ihr fast immer, den Geräuschbrei aufzuhalten, der aus seinem Mund quoll. Aber heute ergoss sich Schwall um Schwall unverständlicher Laute in ihr Ohr. Warum nur konnte sie nicht begreifen, was er sagte? Lag es daran, dass Wesen wie er rückwärts sprachen?
Sie nickte und lächelte erneut, ohne ihn anzusehen. Dabei konzentrierte sie sich verzweifelt auf die Erbsen. Drei Erbsen. Als sie die Gabel, so wie sie sein musste, endlich vorbereitet hatte, war es wieder still im Zimmer.
Fünf Reiskörner – drei Erbsen … Angestrengt blickte sie auf ihren Teller hinunter. Fünf Reiskörner – die sieben mal dritte Erbse – ein Schluck Wein.
Und wieder gelang es ihm, sie zu überlisten. Einen scharfen Schrei stieß sie aus, als sie das Geräusch hörte. Er hatte nach ihr – nein – nach etwas gegriffen, nach einem Salzfass. Ihr Stuhl fiel polternd um, als sie aufsprang. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Tisch. Unaufhaltsam fraß sich das versickernde Blut wie eine scharlachrote Blume des Bösen in das Leichentuch. Das Glas, aus dem er getrunken hatte, lag neben dem silbernen Kerzenleuchter.
Und dann – sie wehrte sich, aber vergebens, er war stärker als sie – dann sah sie ihm ins Gesicht. In der bodenlosen Tiefe seiner dunklen Augen tanzten Kerzenflammen. Diese Schwärze in seinen Augenhöhlen glühte von innen, und seine schmalen Pupillen sandten Blitze aus, die wie heiße Nadelstiche in ihrem Gesicht waren.
Die Luft im Raum wurde mit einem Mal so dumpf wie in einem verschlossenen Sarg. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Ja, sie war in einer Grabkammer, und der Ausgang war ihr für immer verwehrt.
Und dann geschah, was sie befürchtet hatte. Es dauerte nur den Bruchteil eines Augenblicks, aber es würde genügen, um sie wieder nächtelang in schlaflosen Alpträumen zu schütteln. Grinsend ließ er sie erahnen, wer er wirklich war. Schemenhaft verzerrte sich sein Gesicht zu einer Fratze, und er wurde zu dem Geschöpf der Scheußlichkeit, das er in Wirklichkeit war: zu einem Dämon, der menschliche Gestalt angenommen hatte, um sie zu peinigen.
„Drei Erbsen – fünf Reiskörner – sieben mal drei Erbsen – ein Schluck Wein …“ Krampfhaft versuchte sie, nur an die Zahlen zu denken. „Drei Erbsen – fünf Reiskörner …“ Aber trotz der Monotonie in ihrem Kopf gelang es ihr kaum, ruhiger zu werden.
Wieder erzwang er ihren Blick. Seine Pupillen hatten sich noch enger zusammengezogen. Das unheimliche Licht glomm düster hinter seinen Augen. Ein eisiger Luftzug ging von ihm aus. Sie konnte ihn ganz deutlich spüren. Die Wellen von Kälte wurden immer durchdringender. Er kam auf sie zu. Näher und näher kam er. Seine Hände hatte er nach ihr ausgestreckt. Wie Klauen sahen sie aus. War der Zeitpunkt jetzt gekommen? Würde er ihr nun den Rest auch nehmen, diesen letzten Rest Leben, der noch in ihr war? Würde er gleich zudrücken, mit seinen übernatürlichen Kräften das Leben aus ihr herauspressen, sie zerquetschen, zermalmen, vollends vernichten?
Ihre rechte Hand tastete wie hilfesuchend nach dem tödlich scharfen Messer, das sie immer in der Tiefe ihrer Rocktasche verborgen hielt. Würde sie genug Kraft haben, sich zu wehren? Was würde am Ende siegen: seine Macht der Hölle oder ihre teuflische Klinge?
Die übergroßen Hände des Dämons legten sich auf ihre Schultern. Seine breiten Daumen berührten sich genau über ihrer Kehle. Sie war wie gelähmt. Nicht einmal einen Atemzug konnte sie noch tun.
Er drückte der leblosen Puppe, die da vor ihm stand, einen kalten Kuss auf die Stirn. Während er zur Tür ging, berührte seine linke Hand vorsichtig das Glasröhrchen in seiner Hosentasche. Bald war der Zeitpunkt gekommen. Dann würde er das Schlafmittel in ihren Wein mischen. Niemand würde Verdacht schöpfen, niemand an ihrem Selbstmord zweifeln, denn jeder wusste, wie es um sie stand. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen, als er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

***

Stichwörter:
Kurzgeschichte, Eva Markert, Hölle, Wahn, Angst, Selbstmord, Panik, Gruselgeschichte

Written by Ronald

18. März 2017 at 13:11

Gottfried Johannes Müller: Beim König der Kurden

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Beim König der Kurden

© Gottfried Johannes Müller

Tag um Tag vergeht. Wir werden immer mutloser, denn es scheint, als hätten sich alle finsteren Gewalten gegen uns verschworen um zu verhindern, dass wir unseren Plan verwirklichen: noch tiefer wollen wir ins Wilde Kurdistan eindringen, jetzt erst recht! Von Pontius zu Pilatus sind wir schon gelaufen, um uns nach einem Weg in dieses Land, das mit sieben Siegeln verschlossen zu sein scheint, zu erkundigen. Bei allen behördlichen Stellen und sämtlichen führenden Männern, bei Persern, Türken, Indern und anderen sind wir schon gewesen – überall haben wir nur die eine trostlose Antwort erhalten, dass es aufgrund fast aller Erfahrungen so gut wie ausgeschlossen sei, lebendig aus dem Innern dieses wilden Landes wieder herauszukommen, denn die Kurden seien heute noch genauso wie früher, nämlich ganz gefährliche Räuber und Mordgesellen. – Eine kleine Kostprobe davon haben wir soeben genossen …

Wieder ist unsere kleine arabische Freundin Fatima die Vermittlerin zur einzigen Stelle, die uns die Tore zu diesem Lande öffnen kann. Aber die kleine Fatima war ganz unschuldig daran und wusste nichts davon. – Es nahte ihr Geburtstag … Um einmal unsere Dankbarkeit für die vielen schönen Stunden in ihrem gastlichen Heim in der Sprache der Blumen auszudrücken, durchforschen wir sämtliche Gärten der Stadt Bagdad – Gärtnereien in unserem Sinne gibt es dort nicht -, um ihr die allerschönsten Rosen zu bringen. Wir finden aber keine. Unsere letzte Hoffnung, in der Vorstadt Moadam das Gesuchte zu finden, zeigt sich auch als erfolglos. Schon wollen wir von unserer vergeblichen Forschungsreise nach Rosen zurückkehren, als Sepp unseren sonst so pfiffigen Diener Ibrahim, den wir nach unserer abenteuerlichen Reise nach Kurdistan wieder zu uns genommen haben, auf eine palastähnliche Villa in nächster Nähe aufmerksam macht. Ob wir dort nach Rosen fragen sollten? Erschrocken ob dieses Ansinnens erbleicht Ibrahim und will rasch an dem gefürchteten Haus vorübereilen. Dabei flüstert er ganz leise: „Unmöglich, unmöglich – das ist ein strenger, böser, hoher Herr!“

„Leeschhada?“ (Warum?), erwidere ich. „Wir versuchen es einfach! Sage mir, wer ist dieser hohe Herr?“

Fast ängstlich, doch ehrerbietig kommt Ibrahims Antwort: „Es ist Scheich Mahmud, der König der Kurden!“

Diese Worte verschlagen uns den Atem. Ein bedeutungsvoller Blick wechselt zwischen Sepp und mir. „Mäachaläf“ (Macht nichts, wir gehen hin!), erwidere ich lächelnd dem erstaunten Diener. Ibrahim kennt uns recht gut und weiß genau, dass wir uns nie von etwas abbringen lassen, was wir vorhaben – ja, dass wir sogar gewillt wären, solches unter allen Umständen durchzuführen. Also geht er mit uns.

Einem kurdischen Diener, groß, schön und stark gebaut, übergeben wir höflich unsere Besuchskarten mit der Aufforderung, uns dem König zu melden. Die dunkle Kleidung, die eigenartig lauernden Blicke unter dem fast schwarzen Turban lassen seltsame Gefühle und Erinnerungen in uns aufsteigen.

Der Diener kehrt zurück und führt uns in den Empfangsraum des Königs. Dort lassen wir uns in den modernen Polstersesseln nieder. Sofort werden auch die nötigen Gastgeschenke übergeben: ein Diener reicht starken, ungezuckerten arabischen Kaffee, der zweite gesüßten türkischen Kaffee. Danach wird Tschai und immer wieder Tschai eingeschenkt …

Wie wir so behaglich beieinander sitzend beim dritten Glas Tschai angekommen sind, öffnet plötzlich ein Diener die Tür und verbeugt sich tief. Wir schnellen von unseren Sitzen auf – ruhigen, gemessenen Schrittes betritt der König das Zimmer und hebt die Hände hoch zum Gruß: „Achlan masachlan!“ (Herzlich willkommen. Mein Haus sei dein Haus!) Auf sein „Tfatal“ (Bitte) nehmen wir wieder Platz, dann setzt der Kurdenkönig sich langsam und würdevoll uns gegenüber. Die Hand an die Stirn gelegt, heißt er uns nochmals willkommen, und wir danken, die Hand aufs Herz gelegt.

Nun sind alle Gastfreundschafts-Riten erfüllt, die jedem Besucher – Freund oder Feind – erwiesen werden müssen. Der Gastgeber darf nach diesen Riten annehmen, dass es dem Gast jetzt gutgeht und er sich nach den genossenen Getränken wohlfühlt, darum kann anschließend der eigentliche Wunsch vorgetragen werden.

Da wir die arabische Sprache nicht ganz perfekt beherrschen, dies aber dem König gegenüber hätte der Fall sein sollen, ziehen wir es vor, unseren Diener Ibrahim als Dolmetscher einzuschalten, der alle unsere Wünsche, weit ausholend und geschmückt mit vielen schönen Redensarten, Scheich Mahmud vorträgt.

So erfährt er, dass wir zwei deutsche Reiseschriftsteller sind und gekommen seien, um das sagenhafte Kurdistan kennenzulernen. Bisher hätten wir noch nicht viel Gutes darüber lesen können. Wohl hätte man uns erzählt, die Leute dort seien nur Räuber und Mörder, und ein Besuch ins Innere des Landes sei fast immer mit dem Tod besiegelt worden. Wir aber könnten das nicht glauben, sondern seien überzeugt, dass die Kurden trotz ihrer Weltabgeschiedenheit und abenteuerlichen Lebensweise gute Menschen seien, wenn sie wüssten, dass man sich ihnen als Freund nähert. (Wallah = bei Gott, diese guten Menschen hatten wir ja schon von der richtigen Seite kennengelernt!)

Nach unserer Rückkehr, erzählt Ibrahim weiter, möchten wir über diese braven, tapferen Leute und besonders über den König selbst ein Buch schreiben, damit die Wahrheit über Kurdistan und die Kurden so bekannt wird, wie sie in Wahrheit ist und man nicht mehr die schrecklichen Räuber- und Mordgeschichten weiterverbreitet …

Der hohe Gebieter saß uns während dieses Vortrages, der etwa zwei Stunden in Anspruch genommen hatte, würdig und schweigsam gegenüber. Nur mit seinen unergründlichen, gebieterischen Augen, denen wir aber ebenso ernst begegneten, musterte er uns forschend. Bevor wir sodann zum letzten Schlag und eigentlichen Grund unseres Besuches ausholen, bitten wir den Scheich, um ihn doch wenigstens einmal zum Sprechen zu bringen, er möge uns etwas über sein starkes, stolzes Volk erzählen.

Tatsächlich lüftet sich allmählich und immer mehr der Schleier über seiner eisigen Verschlossenheit. Mit ernsten, aber gütigen Blicken begegnet er uns, und dann geschieht das Merkwürdige, nämlich eine vollkommene Wandlung dieses Königs der Kurden. Er redet warm und immer wärmer werdend, zum Schluss mit heißer, inbrünstiger Liebe, über sein bedrücktes und nach Freiheit dürstendes Volk und über seine wilde, wunderschöne Heimat.

So hören wir die ganze kurdische Geschichte, wie sich der damals kleine Stamm vor Tausenden von Jahren – die Kurden selbst halten sich ja für direkte Abkömmlinge von Noah – in jener Bergwildnis, die durch ihre natürlichen Schutzwälle fast unbezwingbar ist, angesiedelt habe und heute zu einem Volk von etwa hunderttausend Kriegern angewachsen sei. Doch sei dies nur der kleinste Teil der Kurden. Insgesamt zähle man heute schon viereinhalb Millionen, die jedoch über das eigentliche Kurdistan hinausgewachsen seien. Während früher das ganze Gebiet Kurdistans ein einheitlicher Staat war, so erzählt der König, habe es später einen großen Teil des Landes eingebüßt durch fremde Nationen, die mit modernen Waffen kamen und Stück für Stück an sich rissen. Der größte Teil Kurdistans kam zur Türkei mit den Wilajets Diarbekr, Bitlis, Mamurat el Asis und einem Teil von Erzerum. Der Süden wurde dem französischen Mandatsgebiet Syrien zugeschlagen, und einen Teil erhielt der englische Irak. Der Osten wurde persisch. Ferner liegt noch ein Kreis des transkaukasischen Rätestaates Aserbeidschan am nördlichen Rande Kurdistans. Am Anfang dieses Jahrhunderts habe er einen erbitterten Kampf mit den Engländern führen müssen, die den Rest seines Landes vollends zum Irak schlagen wollten, weil sie danach getrachtet hatten, das „Gold des Landes“, die riesigen Petroleumfelder bei Kerkuk, in ihren Besitz zu bekommen. Wie ein Löwe habe er selbst an der Spitze seiner tapferen Mannen gegen die ungeheure Übermacht der Engländer und Araber in dem großen, breiten Tal vor den Grenzbergen des eigentlichen Inneren, zwischen Kerkuk und Suleimanie gekämpft und habe seinen Gegnern schwere Verluste beigebracht. Er persönlich hätte auch noch lange nicht nachgegeben, sondern hart gekämpft. Dann aber hätten die Engländer ihm ein Friedensangebot gemacht, in dem sie ihm und den Kriegsführern große Summen Geldes zahlen würden, wenn er die Feindseligkeiten einstelle, er selbst nach Bagdad übersiedle und gestatte, dass die Araber nach Suleimanie Polizei und Militär legten. Bei Annahme dieses Friedensangebotes habe er nur einzig und allein das Wohl seines Volkes im Auge gehabt. Er nahm es nur an, um seinen Kriegern zu ermöglichen, sich wieder zu erholen und um weitere schwere Menschenverluste zu vermeiden. Die Krieger zogen sich sodann in ihre Heimatdörfer tief in der Bergwildnis zurück, die, wie gesagt, von außen her uneinnehmbar ist, und sie leben nun dort als Hirten. Gewehre und Munition erbeuteten sie bei den vorangegangenen Kämpfen in Hülle und Fülle und hielten sie gut versteckt in Höhlen. Die Araber des Staates Irak legten sodann starke Polizei und Militärketten um die Gebirgszüge, doch sei dieses den Kurden zunächst einmal noch „lange recht“ – in das Innere des Landes getraue sich kein Fremder hinein. Eine kleine Zahl von Kurdenkriegern genüge, um die schmalen Gebirgspässe zu verteidigen. So leben die Kurden frei und unbelästigt, während die Irakaraber den Kurdenführern hohe Summen Schutzgeld zahlen müssen und durch das viele Militär an der kurdischen Grenze ungeheure Ausgaben haben. Der lachende Dritte sei allerdings – der Engländer! Nachdem er den Irak besetzt hatte, putschte er die Araber so erfolgreich gegen die Kurden auf, dass sie unter englischer Führung kämpften und starben. Der Engländer aber hatte seinen Zweck erreicht. Er nahm von den riesigen Petroleumfeldern Besitz und legte die zweitausend Kilometer lange Leitung bis nach Haifa im englisch verwalteten Palästina und damit zum Mittelländischen Meer, außerdem noch eine Nebenleitung bis zum Suezkanal und kann somit billig und mit wenig Personal das wertvolle flüssige Gold, Öl und Petroleum, gewinnen und auf dem Seeweg zum Verkauf abtransportieren. Nur einige Fliegerregimente – gleichzeitig Stützpunkte für Indien – mit tadellosen Festungsanlagen ließ der Engländer zurück, dann gab er – jedoch nur nach außen hin – dem Staat Irak seine Selbstverwaltung mit großer Geste zurück und nahm den Überschuss seines Militärs weg. – Dafür haben die Araber die Ehre, die Petroleumanlagen vor den Einbrüchen der Kurden zu schützen und die Kurdenführer dafür zu bezahlen.

Auf den Druck der Kurden hin musste schon ein Teil der arabischen Polizei oben an der Grenze durch kurdische Polizei vertauscht werden, wobei der Irak die Ehre hat, sie zu bezahlen. Ihm selbst, dem König Scheich Mahmud, der bisher in Bagdad ein behagliches Leben führen kann und von da aus sein Land regiert, gab man bereits die Erlaubnis, zu seinen Leuten zurückzukehren, unter dem Vorbehalt, dass er nichts mehr gegen die Araber unternehmen werde. Darauf hatte der König aber nur gewartet und lehnte diesen unehrenhaften Antrag ab. Er könne sich sehr gut noch die kurze Zeit gedulden, bis er vorbehaltlos gebeten werde, Bagdad zu verlassen, denn der Staat Irak ist nicht so reich, um die enormen Ausgaben für die Grenzbewachung gegen die Kurden auf die Dauer tragen zu können. – Dann sei die Zeit des kurdischen Wiederaufstiegs gekommen – und es wird der König seine Getreuen wieder um sich sammeln und einen allmählichen, aber gigantischen Kampf gegen seine Feinde führen. Und er wird beginnen, sein Volk wieder vom Joche der Perser, Türken, Russen und des Iraks frei zu machen.

Vor uns sitzt nun der König, und seine Augen schießen feurige, echt kurdische Blicke, als er sagt: „Wir viereinhalb Millionen Kurden werden wieder ein großes, freies Kurdistan gründen!“

*

Sie möchten wissen, wie die Geschichte weitergeht?
Dies ist ein Auszug dem Reisebericht von Gottfried Johannes Müller, der im Jahre 1935 mit dem Fahrrad eine Reise in den Orient unternahm, wobei es ihm gelang, in das hermetisch abgeriegelte Kurdistan zu kommen. Den vollständigen Bericht finden Sie in dem Buch
Johannes Gottfried Müller: Einbruch ins verschlossene Kurdistan
Johannes Gottfried Müller
Einbruch ins verschlossene Kurdistan
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-00-2

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Stichwörter:
Roman, Johannes Gottfried Müller, Kurdistan, Reiseerzählung, Abenteuer, Reise, König, Kurden

Written by Ronald

18. März 2017 at 12:57

Gottfried Johannes Müller: Entführt – vergiftet – und doch gerettet

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Entführt – vergiftet – und doch gerettet

© Gottfried Johannes Müller

Ein diamantbesäter Himmel wölbt sich über uns, als wir in der Eisenbahn sitzen, die uns gen Norden nach Kerkuk bringen soll. Noch einmal blitzen die zahlreichen Kuppeln Bagdads golden auf und winken uns einen Abschiedsgruß zu.

Unsere Reisegefährten in der dritten Klasse bestehen aus einem Gemisch von finster unter ihrem dunklen Turban hervorblickenden Kurden und Arabern, die uns mit ihren kalten, wenig vertrauenerweckenden Blicken durchbohrend mustern. Uns muss das kalt lassen, denn das Wichtigste, wenn auch Schwierigste, war und blieb für uns, in irgendeiner Weise mit den Kurden in nähere Fühlung zu treten, sollte unser Plan nicht schon von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Die arabische Sprache beherrschen wir jetzt schon ganz gut, aber zwischen den Arabern und Kurden besteht nicht nur ein gewaltiger Rassenunterschied, auch die arabische Sprache ist den Kurden völlig volksfremd. Wir müssen nun also Kurdisch lernen.

Uns gegenüber sitzt ein besonders finster dreinblickender Geselle. Er hat seine Hose ausgezogen, sie auf der Bank ausgebreitet und verrichtet darauf kniend sein Abendgebet, das Gesicht gen Mekka gekehrt. Aus der Ferne hören wir noch den Muezzin sein „La illallah, illallah Muhmeddin resullillah“ rufen. Lange betet unser Gegenüber, denn er ist offensichtlich ein Hadschi (Mekkapilger), der sein Gebet viel länger auszudehnen hat als ein gewöhnlicher Muselmann.

Erfrischend weht uns ein kühles Abendlüftchen ins Gesicht. Dann verschwindet langsam die Märchenstadt Bagdad am Horizont.

Als der fromme Mann sein Abendgebet beendet hat, lachen wir ihn einmal so recht herzlich an und reichen ihm eine Zigarette. Schweigend, ohne eine Miene zu verziehen, nimmt er sie und zündet sie an. Unser Angebot hat ihn nicht freundlicher gestimmt. Sein eiskalter Blick trifft uns aus blitzenden Augen. Wir übersehen das geflissentlich, denn wir wollen ihn unbedingt zu einem Gespräch mit uns bewegen. Ich deute nun auf den aus seinem breiten Lendengurt hervorlugenden Dolchgriff. Unser unfreundliches Gegenüber fletscht jetzt seine schneeweißen Zähne und bringt höhnisch lächelnd ein mehr als ellenlanges, furchtbar breites Messer in schön geschwungener Form zum Vorschein. Sepp und ich erbleichen vor Schreck, als er es zum Spaß gegen uns führt. Es überläuft uns ein unheimliches Gruseln, als wir von dem haarscharfen Messer in die kalt bleibenden Augen des Mannes blicken.

Wir sind geschlagen. Der erste Misserfolg eines Annäherungsversuches! Eine peinigende Unruhe packt uns bei dem Gedanken, dass wir zu diesen Leuten, die, wie man sagt, nur aus Räubern und Mördern bestehen sollen, reisen wollen. Sollen wir nicht lieber umkehren? Oder sollen wir es wagen und uns diesen Mordgesellen anvertrauen? Wir müssen!

Nach einer bitterkalten, sternklaren Nacht, die wir, weil wir uns nicht ausstrecken können, nur wenig schlafend über der Sitzbank im Gepäcknetz verbringen, langen wir gegen Morgen mit elend steifen Gliedern in Kerkuk, der Stadt der riesigen Petroleumlager, an. Hier sind wir bereits am Vorposten Kurdistans. Wir wollen aber zunächst nach Suleimanie, der kurdischen Hauptstadt, weiterfahren, um von dort aus in die ansonsten unzugängliche Bergwildnis Kurdistans vorzudringen. In Suleimanie selbst liegt noch ein ziemlich starkes Polizei- und Militäraufgebot des Staates Irak, so dass wir uns dort zunächst einmal sicher fühlen können. Wir müssen danach aber selbst sehen, wie wir weiterkommen.

Ein Mietauto für die etwa 200 Kilometer lange Fahrt von Kerkuk zur kurdischen Hauptstadt ist schnell gefunden. Als wir gerade Platz nehmen wollen – uns stockt der Atem -, kommt, wie der Leibhaftige in Menschengestalt, unser grimmiges Gegenüber aus der Eisenbahn stracks auf uns zu, und ehe wir uns versehen sitzt dieser Kerl schon zwischen uns auf der Sitzbank im Auto. Uns überläuft erneut das kalte Grausen bei seinem Anblick, aber dann kocht es in uns vor Wut ob der unverschämten Dreistigkeit des unheimlichen Menschen. – Aber was sollen wir tun? – Es bleibt nur eins: gute Miene zum bösen Spiel machen.

Zum zweiten Mal versuchen wir, mit dem Kurden in ein Gespräch zu kommen. Aber auch diesmal wieder ohne jeglichen Erfolg. Die einzige Antwort, die wir von ihm erhalten, ist ein zynischer Blick aus seinen rohen, furchterregenden Augen.

Nachdem wir etwa drei Stunden lang schweigend, uns krampfhaft irgendwo im Auto anklammernd auf schlaglochreichen Wegen dahingerast sind, taucht plötzlich vor unseren Blicken ein großes Dorf mit primitiven Lehmhütten auf, hinter dem sich die mächtige, schneebedeckte Gebirgskette des Persischen Hochlandes erhebt.

Wir sind in Suleimanie angekommen, der Hauptstadt Kurdistans.

Stumm und plötzlich, wie unser finsterer Reisegefährte bei uns erschienen ist, verlässt er uns nun. „Unheimliche Gesellen, diese Kurden!“, sagt Sepp verwundert.

Aber das Wundern sollte uns in diesem Wunderlande noch in ganz anderen Ausmaßen beigebracht werden.

Bald haben wir uns in einem sogenannten „Hotel“ eingerichtet, müssen jedoch mit einem Perser zusammen in einem Zimmer schlafen. Wes Geistes Kind dieser Perser ist, können wir nicht feststellen. Es ist uns aber gleichgültig, da wir die persische Sprache nicht beherrschen und er keine andere Sprache als Persisch kann. Obwohl wir in dem angeblich feinsten Hotel Suleimanies abgestiegen sind, siehe da, es wimmelt im Zimmer von allerhand scheußlichem Ungeziefer, was uns wehmütig an die komfortableren Häuser in Bagdad zurückdenken lässt. Indessen, wir sind ja vor der Zivilisation geflohen, um hier die urwüchsige Natur zu finden. Und zu dieser gehört eben auch das Ungeziefer.

Die Kälte in unserem Hotelzimmer macht uns Zittern. Draußen fegt eisiger Wind übers Land – der Raschaba (schwarzer Wind), der sich vom persischen Hochgebirge herunterstürzt. Es ist nicht daran zu denken, dass man hätte ins Freie gehen können, denn ein Vorwärtskommen ist fast unmöglich bei dem feinen Staub und Sand, den der Raschaba in dichten Wolken mit sich führt, und der sich in Augen, Nase, Mund und Ohren setzt. Der Raschaba ist ähnlich dem Samum in der Wüste. Unser reichlich besudelter Gastwirt versucht uns guten Mut zu machen und vertröstet uns damit, dass der Raschaba nur noch drei, fünf oder sieben Tage anhalten werde. Das ist eine üble Aussicht, die uns dieser schwarze, wilde Geselle bereitet. So bleibt uns nichts anderes übrig, als den ganzen Tag im arg ungemütlichen Hotelzimmer zu sitzen, noch dazu in Gesellschaft eines fremden Persers, mit dem wir kein Wort reden können und der auf uns recht stumpfsinnig wirkt. Außerdem froren wir jämmerlich.

*

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Dies ist ein Auszug dem Reisebericht von Gottfried Johannes Müller, der im Jahre 1935 mit dem Fahrrad eine Reise in den Orient unternahm, wobei es ihm gelang, in das hermetisch abgeriegelte Kurdistan zu kommen. Den vollständigen Bericht finden Sie in dem Buch
Johannes Gottfried Müller: Einbruch ins verschlossene Kurdistan
Johannes Gottfried Müller
Einbruch ins verschlossene Kurdistan
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-00-2

***

Stichwörter:
Roman, Johannes Gottfried Müller, Kurdistan, Reiseerzählung, Abenteuer, Reise, Suleimanie, Orient

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18. März 2017 at 12:54

Gottfried Johannes Müller: Bagdad und die heilige Stadt Kasimen

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Bagdad und die heilige Stadt Kasimen

© Gottfried Johannes Müller

Seit über vierzig Stunden fühlte ich mich mit meinem Sepp wie ein Gefangener in jenem Wüstenauto, das wir nach herrlichen Sonnentagen und phantastischen Vollmondnächten am See Genezareth in Tiberias bestiegen hatten.

Erfreulich kurz dauerte die Rast an der Grenze zwischen Palästina und Transjordanien zur Passkontrolle und zu einer geringfügigen Reparatur am Auto.

Dann donnerte der Wagen weitere viele Stunden Tag und Nacht in rasender Fahrt ununterbrochen durch die öde Syrische Wüste dahin. Zur Orientierung des Weges dienten lediglich die Fahrspuren anderer Wüstenwagen.

Während wir tagsüber in der glutheißen Sonne fast austrockneten, froren wir des Nachts. Wir führten außer unseren leichten Reisedecken nur Tropenkleidung mit uns.

Der Einfall zu dieser Wüstenfahrt war uns nämlich ebenso spontan gekommen, wie so manches andere Abenteuer, das wir auf unserer Reise erleben durften.

An Schlaf war trotz unserer ungeheuren Müdigkeit nicht zu denken, weil wir in diesem rasenden Tempo bei jeder der vielen Unebenheiten des Sandmeeres hochgeworfen und mit kräftigem Schlag wieder niedergesetzt wurden. So lagen wir, alles über uns ergehen lassend, hinten auf dem offenen, leeren Lastwagen und starrten hinauf in den Zauber des Sternenhimmels und in das fahlsilberne Mondlicht der tropischen Nacht … Unsere Köpfe schützen wir so gut wie möglich vor den Aufschlägen auf dem Lastwagenboden.

Am zweiten Morgen unserer Wüstenfahrt kam neues Leben in unsere steifen Glieder. Heute sollten wir noch am Vormittag das Ziel unserer Sehnsucht erreichen. Schon hatten wir den Euphrat überquert und einige Dörflein inmitten kleinerer Oasen durchfahren, da verschlang uns wieder die trostlose Öde der Wüste.

Erwartungsvoll gehen unsere Blicke gen Osten in die langsam höher und höher emporsteigende Glutkugel der unbarmherzigen Sonne.

Endlich glauben wir einige glitzernde Punkte am Horizont zu entdecken, die sich rasch vergrößern. Durch unser Fernglas erkennen wir golden glänzende Kuppeln von Moscheen. Von unserem Wüstenchauffeur erfahren wir, dass es die der heiligen Stadt Kasimen sind, dem Wallfahrtsort der mohammedanischen Sekte der Schiiten. Wir umfahren glücklicherweise diese Stadt in großem Bogen.

Während ich noch lange auf die schimmernden Kuppeln und Minarette zurückblicke, steigt in mir ein Gedanke auf.

Inzwischen nähern wir uns unserem Ziel. Vor uns liegt Bagdad, die einstige Stadt der Wundermärchen von „Tausendundeine Nacht“. Inmitten von sattem Grün und dem Braun gewaltiger Palmenhaine blinken die unzähligen weiß leuchtenden Häuser hervor. Dazwischen leuchten die vielen, in allen Regenbogenfarben schimmernden, buntglasierten Kuppeln der zahlreichen Moscheen.

Es ist ein Wunderglanz und eine Farbenpracht, wie sie wohl nur im Orient vorkommen.

Tiefblau wölbt sich der unermessliche, wolkenlose Himmel wie ein Dom über dieses Märchen der Märchen.

Wir verlassen unseren Rumpelkasten und sind froh, endlich wieder auf unseren eigenen Beinen zu stehen.

Das unerwartet schöne Straßenbild, das noch durch die Freudigkeit der malerischen Frauenkleidung gehoben wird, setzt uns in volle Begeisterung.

Lachend werfen wir einen letzten Blick auf den Wüstenwagen. Dann besteigen wir ein bequemes Taxi, von dem wir uns in das von uns schon erwählte „Hotel Naamann“ bringen lassen. Dort richten wir uns behaglich ein, denn wir beabsichtigen, mindestens zwei Wochen hier zu bleiben, um all den Glanz und Zauber der Märchenstadt Bagdad zu kosten.

Inzwischen ist es Abend geworden. In einem Meer von Farben rollt das Sonnenrad dem westlichen Horizont entgegen.

Begleitet von unserem Diener Ibrahim, den wir für die Dauer unseres Aufenthalts gemietet haben, und der auch ganz leidlich Englisch spricht, schlendern wir durch das moderne Viertel der „New Street“, um bald darauf in einem der vielen, nach der Straße zu offenen Kaffeehäuser zu landen. Hier hängen an den Wänden und liegen über den zahlreichen hohen Bänken prachtvolle, kostbare Perserteppiche, vor denen winzig kleine Tischchen für den gereichten Mokka und Tee stehen.

Entgegen dieser Pracht an Wänden und auf Bänken ist der Fußboden sehr schmutzig und mit Sägemehl bestreut. Man kennt die hygienische Theorie „Nicht auf den Boden spucken“ im Orient nicht. Aller Unrat wandert auf kürzestem Weg immer nach unten. In den Kaffeehäusern herrscht reges Leben. Von morgens früh bis in die späte Nacht sind sie von plaudernden Männern gut besucht, es herrscht dichtes Gedränge dort.

Araber, mit der eigenartigen Irakmütze auf dem Kopf, und viele Beduinen aus ihrem unermesslichen Bereich der Wüste sind hier und schauen neugierig, als wir das Gasthaus betreten. Sie sind zum Einkauf gekommen und wollen hier noch manche Neuigkeit erfahren.

Diese Beduinen tragen den Burnus, die Abba im Gürtel, den Silberdolch, kunstvoll ziseliert, um ihr Haupt das Keffietuch geschlungen, welches mit den schwarzen Ziegenhaarringen, dem „Iggal“, festgehalten wird. Zwischen den dichtgedrängt sitzenden Menschen gehen eiligen Schrittes die Boys hin und her, um die gewünschten Getränke zu reichen. Durch den ganzen Raum zieht sich pausenlos das auf- und abschwellende Geräusch der vielen redenden Männer, dazwischen das Gurgeln der vielen wohlschmeckenden „Nargilehs“ (Wasserpfeifen) und das unaufhörliche Klappern des hier sehr beliebten Glückspiels „TrickTrack“.

Sepp und ich haben uns mit Ibrahim in eine Ecke des Lokals gesetzt, von wo aus wir das ganze Leben und Treiben ungestört beobachten können.

Aller Augen richten sich heimlich auf uns, da wir mit unserem Diener Englisch sprechen. Nicht weniger erstaunt aber blicken die neugierigen Lauscher auf, als wir in fließendem Hocharabisch „Tschai“ (Tee) bestellen. Ganz famos ist es, dass man in den Bagdader Kaffeehäusern nur einmal zu bezahlen braucht, und zwar etwa sechs Pfennige. Für diesen Betrag kann man den ganzen Tag sitzen bleiben und trinken, so viel man will.

Kaum zwei Minuten sitzen wir hier, da tritt ungerufen der Boy zu uns an den Tisch und bietet uns Zigaretten an. Auf unsere fragenden Blicke „Wieso das?“ deutet er auf einen Herrn in der gegenüberliegenden Ecke.

Wir grüßen lachend hinüber und bitten wenig später, ob wir uns zu ihm setzen dürfen. Es ist offensichtlich ein Herr aus höheren Kreisen, der sich freut, dass wir zwei „Alemani“ von so weit hergekommen sind, um seine Heimatstadt Bagdad zu besuchen.

Sogleich lässt er für uns Getränke und die übliche Nargileh kommen. Voll Behagen genießen wir dieselben.

Lange unterhalten wir uns mit diesem Herrn, einem sehr geistvollen, höheren Regierungsbeamten, der uns nicht nur als seine Gäste betrachtet, sondern uns auch viel Neues und Altes von Bagdad erzählt.

Viel wichtiger war es uns aber, dass uns durch ihn Tür und Tor zu allen führenden Stellen und Männern des Irak geöffnet wurden. Überhaupt hatten wir noch oft Gelegenheit, die große Gastfreundschaft der Irakaraber uns Deutschen gegenüber kennenzulernen.

*

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Dies ist ein Auszug dem Reisebericht von Gottfried Johannes Müller, der im Jahre 1935 mit dem Fahrrad eine Reise in den Orient unternahm, wobei es ihm gelang, in das hermetisch abgeriegelte Kurdistan zu kommen. Den vollständigen Bericht finden Sie in dem Buch
Johannes Gottfried Müller: Einbruch ins verschlossene Kurdistan
Johannes Gottfried Müller
Einbruch ins verschlossene Kurdistan
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ISBN 978-3-939937-00-2

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Roman, Johannes Gottfried Müller, Kurdistan, Reiseerzählung, Abenteuer, Reise, Irak, Bagdad, Kasimen, Orient

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18. März 2017 at 12:50

Gottfried Johannes Müller: Im Fegefeuer der Wüste

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Im Fegefeuer der Wüste

© Gottfried Johannes Müller

Punkt fünf Uhr holt uns das Auto in unserem Hotel „Naamann“ ab, um gleich darauf Bagdad zu verlassen. Welche Abenteuer warten auf uns?

Auf den Rat unseres Freundes Kasim und des treuen Ibrahim haben wir uns für die Reise reichlich mit Lebensmitteln und, was das Notwendigste ist, mit sehr viel Wasser versorgt. Zuerst scheint uns dieses Anraten unverständlich, denn schon am gleichen Abend sollten wir doch schon im Lager des Scheich Abdul el As eintreffen. Aber einen guten Rat soll man immer befolgen, das hilft vor Schaden bewahren.

Auf gut geteerter Straße fahren wir in nordwestlicher Richtung dahin und erreichen bereits nach eineinhalbstündiger Fahrt Feluja. Das ganze Dorf ist von unserer Ankunft bereits unterrichtet und erwartet uns. Aus einem großen Kreis schreitet sodann ein Beduine hoheitsvoll auf uns zu, verneigt sich tief und meldet: „Mein hoher Herr, Scheich Abdul el As, sendet mich hierher, um Euch zu dienen und sicher in sein Lager zu geleiten.“

Der Beduine nimmt in unserem Wagen Platz, und nun erst beginnt die eigentliche Fahrt. Unmittelbar hinter Feluja passieren wir auf einer guten Brücke den Euphrat. Dann verlassen wir die Straße und fahren westwärts in die Steppen der Wüste hinein. Unser Fahrer ist ein origineller Bursche. Tollkühn, aber mit fabelhafter Sicherheit, die wirklich staunenswert ist, jongliert er die Wüstenkiste über die vielen Hindernisse hinweg. Das ist gar nicht so einfach wie es aussieht, denn es sind stets eine Unzahl kleinere und größere Sanddünen zu überqueren, in denen sich der Wagen festfahren würde, wäre sein Tempo nicht so schnell. Die Löcher behindern den Wagen weniger. Am schönsten ist es, wenn man so im Achtzig-Stundenkilometer-Tempo darüber hinwegschießt. Man wird dabei zwar bis an die Auto-Decke hochgeworfen, aber unsere Abenteuerlust ist noch höher.

Die Sonne steht schon sehr hoch am Himmel. An sich ist es ein sehr schöner Tag, aber heiß. Das muss eben in Kauf genommen werden, wenn man in die Wüste fährt. Trotzdem kommt mir die Schwüle unheimlich drückend vor. Mit einer gewissen Genugtuung sehe ich, dass sich die anderen Mitfahrer auch heimlich den Schweiß von der Stirn wischen.

Da wir aber unaufhaltsam und auch sehr rasch vorankommen, können wir, wenn nicht etwas Besonderes dazwischen kommt, schon nachmittags gegen vier Uhr bei unserem Gastgeber sein.

Aber das unerwartet „Besondere“, es kam!

Ununterbrochen fegen wir nun schon den ganzen Vormittag, mit nur ganz kurzer Rast, über die glühende Wüste dahin. Nicht das leiseste Lüftchen regt sich, um uns Kühlung zu verschaffen. Immer mehr wird aus dem armen, wild pochenden Motor herausgeholt. Keiner von uns spricht mehr ein Wort. Außer dem rastlosen Knattern der Maschine hört man keinen Laut. Auch mir ist die Kehle schon vollkommen ausgetrocknet, und ich mag und kann nichts mehr reden. Der unheimliche Bann, der auf den anderen liegt, überträgt sich auch auf mich und meinen Freund.

Zwei Uhr nachmittags – ich atme auf. Ist es die Erwartung, bald das ersehnte Ziel erreicht zu haben, oder eine Beklemmung, dass etwas bevorsteht?

Kurz darauf kommt eine ganz leichte Brise, die ich mir wohlig über Gesicht und Haare streichen lasse. Auf dem Boden spielt das harmlose Windchen mit dem leichten Wüstensand und formt allerlei Figuren und Arabesken. Während ich noch über die geschickte Meisterhand des Windes staune und alle möglichen Dinge und Gegenstände in den Formen zu erkennen suche, nimmt der Wind von Sekunde zu Sekunde an Stärke zu. Die eingeborenen Mitfahrer vertauschen ihre Schweigsamkeit mit lautem Geschimpfe – ihre Augen suchen unstet die Umgebung und den Himmel ab. Dann, ehe wir uns versehen, wird es dunkel und dunkler um uns her.

Mit einem laut quietschenden Ruck hält unser Fahrer und springt aus dem Wagen, desgleichen unser Wüstendiener. Eilig schnüren sie eine Menge Decken um den Motor herum und verwenden sogar zusätzlich noch einige ihrer eigenen Kleidungsstücke. Der Wind hat sich inzwischen zu einem rasenden Sturm verstärkt und peitscht eine staubgeschwängerte Windsbraut nach der anderen vor sich her. Und nun sitzen wir auch schon inmitten eines gewalttätigen Sandsturms! Für uns gibt es jetzt nur eines: Sofort und unaufhörlich weiterfahren – nur nicht stehen bleiben, sonst sind wir verloren.

Sepp und ich können es kaum aushalten. Wie Hagelschlag prasseln die feinen Sandkörnchen gegen die Wagenscheiben. Die geschlossenen Augen haben wir voll feinem Sand, ebenso die Nase, vor die wir krampfhaft ein angefeuchtetes Taschentuch pressen. Es beißt und juckt uns überall – in Augen, Nase, Ohren, Mund, überhaupt in jeder Pore. Dazu kommt, dass der Samum nicht etwa abkühlend wirkt, wie das erst schien. Im Gegenteil, es ist ein regelrechter „Haua Schargi“, der aus Osten kommende, heiße Wind, der sich mit wahrer Höllenglut auf uns herabstürzt. Man kann nicht einmal mehr schwitzen, denn selbst der dickste Schweißtropfen wird von dem höllischen Wind, der bis ins innerste Mark eindringt, förmlich hinweggesengt. Um uns her scheint finstere Nacht zu sein. Wie gigantische Gespenster rasen die hochgewirbelten Sandhosen über das Wüstenmeer. Manchmal versuche ich, die Augen ein wenig zu öffnen, schließe sie aber vor beißendem Schmerz gleich wieder. Dann wundere ich mich, wie es unserem Chauffeur und dem neben ihm sitzenden Wüstendiener möglich ist, die Augen noch so weit offen zu halten, dass er in diesem Tempo fahren kann. Wir werden im Wagen wie Kartoffelsäcke durcheinandergeschüttelt. Aber jeder erfahrene Wüstenfahrer weiß, dass ein Halten im Sandsturm für ihn zum tödlichen Unglück werden kann. Wie Schneelawinen vermag der Sandsturm sogar Menschen unter sich zu begraben. – Unser Fahrer fährt nicht nur um unser, sondern auch um sein eigenes Leben zu retten …

Eine Viertelstunde mögen wir so dahingerast sein, als der Motor plötzlich einige Takte aussetzt – noch ein paar Sekunden – dann steht er still. Motor-Panne!

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Johannes Gottfried Müller: Einbruch ins verschlossene Kurdistan
Johannes Gottfried Müller
Einbruch ins verschlossene Kurdistan
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-00-2

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Kurzgeschichte, Johannes Gottfried Müller, Kurdistan, Reiseerzählung, Abenteuer, Reise, Orient, Wüste

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18. März 2017 at 12:45

Agnes Jäggi: Das Paradies

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Das Paradies

© Agnes Jäggi

Er stapft durch den Schnee. Das knirschende Geräusch unter seinen Füssen gefällt ihm. Rechts und links des schmalen Pfades türmen sich hohe weiße Wände. Es ist sehr still. Schon längst hat er das Dorf hinter sich gelassen. Er ist allein, es ist Frieden. Im Ort bei den fremden Menschen in dem fremden Land, in dem er gelandet ist vor wenigen Wochen, fühlt er sich nicht recht wohl. Er versteht die Sprache nicht, kann in den Gesichtern nicht genau lesen, ob sie Freunde oder Feinde sind. Ein alter Mann hatte sich ihm in den Weg gestellt und mit leiser Stimme zu ihm gesprochen. Er verstand die Worte nicht, doch die zusammengekniffenen Lippen, die verächtlich starrenden Augen beunruhigten ihn. Eine Frau mit zwei Kindern wechselte die Straßenseite, als er sich ihnen näherte.

Damals, als er seine Heimat verließ, dieses vom Bürgerkrieg gebeutelte Land, mit nichts als seinen Kleidern am Leib und der schrecklichen Erinnerung an seine toten Kinder und seine Frau, hatte er keine Hoffnung mehr. Ebenso gut hätte er ein Gewehr nehmen und in die Menge der Soldaten schiessen können, um selber erschossen zu werden. Dann hätte endlich alles ein Ende gehabt. Stattdessen war er mit seinem Cousin zu diesem Schuppen in der Nähe des Flusses gegangen. Die Männer, zwei Landsleute und zwei fremde weisse Männer hiessen sie willkommen. Sie nahmen das Geld entgegen, alles was er und sein Cousin besassen, und erläuterten ihnen den Weg ins Paradies. Er wollte noch immer sterben, hier in seiner Heimat, wo er als Knabe und als junger Mann zufrieden und manchmal sogar glücklich gewesen war. Damals, als der alte König noch herrschte, nicht zimperlich zwar, doch man konnte mit ihm leben.

Als das Militär die Macht an sich riss, begann das Elend und das unendliche Sterben im Kugelhagel oder an Krankheiten, an unsauberem Wasser und an Hunger. Sein Cousin war noch sehr jung, achtzehn. Er selber fühlte sich mit seinen knapp 30 Jahren alt und müde. Ceylan, seine Gattin, starb an der Cholera genau so wie die Zwillinge. Denpach und Lanjan waren erst acht. Er musste hilflos zusehen. Viel zu wenige Ärzte, keine Medikamente und viel zu viele Kranke. Er sass neben der dünnen Matte, auf der seine Familie im Sterben lag. Er hatte sich so sehr gewünscht, mit ihnen auf die Reise ins Nirgendwo zu gehen.

Sein Cousin war nicht verheiratet. Er wollte leben, arbeiten, ein Haus haben und einst glücklich mit einer eigenen Familie, im Paradies wohnen. Die Männer nahmen ihnen die Papiere ab, bevor eine qualvolle Odyssee per Schiff und Lastwagen durch die halbe Welt begann. Er und sein Cousin waren nicht die einzigen. Sie hatten Hunger und Durst, sassen oder lagen in ständiger Finsternis. Er flüchtete sich in seine Erinnerungen. Spielte mit seinen Freunden am Fluss, trieb mit seinem Vater die Ziegenherde auf die damals noch saftige grüne Weide. Er konnte den herrlich duftenden Eintopf aus Reis, Bohnen und Ziegenfleisch riechen, den seine Mutter für die grosse Familie zubereitete. Er sah Ceylan, die er bereits als junges Mädchen geliebt hatte und erlebte noch einmal die prächtige Hochzeitsfeier, an der auch viele Bewohner der umliegenden Dörfer teilnahmen. Er sah Ceylans müde und strahlende Augen nach der Entbindung. Er hatte die Zwillinge auf dem Arm gehalten und geweint vor Glück. Zwei, drei zufriedene Jahre, dann kamen die Soldaten. Die junge Familie machte sich klein, wollte einfach nur zusammen sein. Viele Dörfer wurden beschossen, schliesslich auch seines. Als die Soldaten abzogen, waren die meisten Ziegen tot, die Felder verwüstet, der Fluss verseucht. Das langsame Sterben begann …

Das Paradies war kalt und weiss. Er und sein Cousin trugen viel zu dünne Kleidung. Sie wussten nicht wohin. Nirgends war eine Tür, wo sie hätten eintreten können. Eine Polizeipatrouille griff sie schliesslich auf, da waren sie schon halb erfroren.

Er erwachte und ihm war wohlig warm. „Jetzt bin ich wohl im Paradies“, dachte er. Als er die Augen aufschlug, beugte sich eine weisse junge Frau über ihn. Er verstand nicht, was sie sagte, aber sie wirkte freundlich. Sie gaben ihm warme Kleidung, gute Schuhe und nahrhafte wohlschmeckende Kost. Bald begriff er, dass er in einem Zentrum für Flüchtlinge gelandet war. Hier traf er auf einige Landsleute und viele fremde Menschen, nur seinen Cousin konnte er nicht finden. Ein Landsmann, der schon einige Zeit hier wohnte, versprach, sich kundig zu machen. Gemeinsam klopften sie an eine Tür, im Raum sass eine freundlich aussehende Frau. Sein Landsmann sprach in einer fremden Sprache zu ihr. Sie wandte sich mit einem Ausdruck der Trauer erst an ihn, dann sagte sie etwas zu seinem Begleiter: „Ihr wart ganz kalt, als ihr gefunden wurdet. Dein Cousin starb im Krankenhaus.“

Er ist einsam und ohne Heimat. Manchmal geht er mit anderen Männern aus dem Asylzentrum hinaus. Die fremden weissen Menschen glotzen sie meist nur an. Er spürt ihre Missbilligung, ihre Angst. Er hat auch Angst. Er sieht Mütter und Väter mit ihren Kindern. Sie wirken glücklich, doch auch sie gehen ihm aus dem Weg. Es schneit, die weichen Flocken schweben sanft auf die weisse Decke am Boden und setzen sich auf die Dächer der hübschen Häuschen. Er spürt die Kälte kaum, als er seinen Spaziergang fortsetzt. Frieden erfüllt ihn. Langsam bewegt er sich auf dem weissen Pfad fort. Die Schneemauern rechts und links schützen ihn, geben ihm Geborgenheit. Ein junges Pärchen kommt ihm entgegen. Sie lächeln ihm zu, sagen „Hallo“. Er lächelt und nickt, empfindet ein seltenes Glücksgefühl über die Begegnung.

Der Weg wird steiler, über ihm leuchtet ein prachtvoller blauer Himmel. Längst schneit es nicht mehr. Irgendwann wird er müde. Er spürt seine Füsse und Hände nicht mehr, fühlt sich leicht, als könne er davon fliegen. Irgendwann endet der Pfad und vor ihm öffnet sich eine makellose weite Fläche. Er will sich hinlegen, den Himmel betrachten. Und plötzlich entdeckt er die kleine Holzhütte. Ceylan steht da. Sie lacht und winkt ihm zu. Er eilt ihr entgegen, umarmt sie. Im Haus spielen die Zwillinge, und seine Mutter kocht ihren köstlichen Eintopf. Sein Vater nickt ihm zu, lädt ihn ein, sich neben ihn zu setzen. Plaudern und Lachen erfüllen den Raum, bald würden sie zusammen speisen, doch zuvor wird er ein bisschen ruhen. Und er schläft ein.

In Gedenken an den unbekannten farbigen Mann, der Zeitungsberichten zufolge erfroren in einer Hütte in den Schweizer Bergen gefunden wurde
Agnes Jäggi, 5.2.2009

*

Diese Geschichte stammt aus dem Buch
Antastbar. Die Würde des Menschen
antastbar
Die Würde des Menschen
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-12-8

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Kurzgeschichte, Agnes Jäggi, Schnee, Paradies

Written by Ronald

18. März 2017 at 12:39

Veröffentlicht in Kurzgeschichten

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Christof Ropertz: Der Feen-Agent

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Der Feen-Agent

© Christof Ropertz

Das Telefon klingelt.

„Glaubst du an Feen?“, fragt mich eine weibliche Stimme.

„Wie bitte?“

„Glaubst du an Feen?“, fragt sie erneut.

„Wie meinen Sie das?“

„Nun, die Frage ist doch wirklich nicht kompliziert: Glaubst du an Feen?“

„Nein“, antworte ich.

„Dann schau doch bitte einmal unter deine Fußmatte.“

Bevor ich noch etwas erwidern kann, ist die Verbindung unterbrochen.

Nachdenklich durchquere ich die Diele und öffne die Haustür. Die zu oft getretene Sonne meines Fußabstreifers strahlt müde. Als ich die Matte hebe, lacht mich ein nagelneuer 500-Euro-Schein an.

Verwirrt schließe ich die Haustür. Ich zucke zusammen, als das Telefon erneut klingelt. Wahrscheinlich bekomme ich jetzt den merkwürdigen Scherz von einem meiner Freunde erklärt.

„Glaubst du an Feen?“

„Ja, ich glaube an Feen“, antworte ich verunsichert.

„Das ist gut, Mensch. Ich melde mich morgen wieder bei dir.“

Klick.

Das Telefon klingelt um zehn Uhr. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht und über meinen geldscheinlegenden Fußabstreifer und Feen nachgedacht.

„Der Rat der Feen hat dich auserkoren, uns beim Kampf gegen die Kobolde zu unterstützen“, säuselt die bekannte Stimme. „Das Feenland ist in Gefahr. Die Kobolde versuchen seit Jahrtausenden, das friedliebende Feenland zu erobern. Bisher hat unser Verteidigungszauber alle Angriffe abwehren können. Keinem Kobold oder Troll ist es bis heute gelungen, die Grenze zwischen dem dunklen Wald der Kobolde und den saftigen Wiesen des Feenlands zu überschreiten. Doch Krocknick, der Anführer der Kobolde, hat zu einer List gegriffen. Er versucht nicht länger, die Grenze unserer beiden Länder zu überschreiten, sondern benutzt den Umweg über das Reich der Menschen. Daher hat der Rat der Feen Boten ausgesandt, um Helfer unter den Menschen zu finden, die an Feen glauben und bereit sind, für die gute Sache zu kämpfen.“

Wie viel hatte ich gestern Abend getrunken? Mein erstes Delirium habe ich mir anders vorgestellt. Ohne hilfesuchende Feen. Und ohne Aufforderung zum Kampf. Das ist die krasseste Geschichte, die ich seit langem gehört habe.

„Na, da haben Sie sich echt den Richtigen ausgesucht“, entgegne ich. „Der einzige Kampf, den ich seit Jahren führe, ist der gegen die Achtzig-Kilo-Marke auf meiner Waage und die liegt mittlerweile uneinholbar in Front.“

„Der Rat der Feen hält dich für den Richtigen.“

Spontan schießt mir eine Filmszene aus „Harry Potter“ durch den Kopf. Der darin vorkommende Troll spielt trotz meines Schwabbelbauchs nicht in derselben Gewichtsklasse wie ich und er ist außerdem zwei Meter zu groß. Es ist offensichtlich, dass der Rat der Feen, zumindest was die Auswahl seiner Streitkräfte angeht, nicht über die nötige Weitsicht verfügt. Gut, ich habe 15 Monate beim Bund gedient. Im Luftwaffenmusikkorps als Klarinettist. Entweder haben die Feen meine Militärakte nicht richtig gelesen oder sie halten Klarinette für eine atomare Waffengattung. Nein, ich bin mir sicher, der Fee höflich aber bestimmt eine klare Absage erteilen zu müssen.

„Hören Sie, wer immer Sie auch sein mögen: Sie haben sich den Falschen ausgesucht. Ich bin nicht zum Kämpfen geschaffen. Ich habe nichts dagegen, mich zu bücken und 500-Euro-Scheine unter der Fußmatte hervorzuziehen; wenn es sein muss auch mehrmals täglich, aber gegen Kobolde und Trolle kämpfen ist nicht mein Ding. Tut mir leid.“

„Du sollst doch nicht kämpfen“, lacht sie glockenhell. „Wir brauchen jemanden, der uns mit einigen kleinen Hilfsdiensten unterstützt. Die Aufgabe ist nicht gefährlich und sie wird reichlich belohnt.“

Das Wort Belohnung klingt wie Musik in meinen Ohren. Trotzdem bleibe ich skeptisch.

„Wir werden deine Hilfe während der nächsten ein oder zwei Tage benötigen. Deine Dienste vergüten wir mit 1000 Euro für jede angefangene Stunde, in der du für uns tätig sein wirst.“

Knete statt Kampf. Das klingt wahrlich nicht schlecht. Steuerfrei. Denn kein Finanzamt der Welt würde eine Kontrollmitteilung ins Feenland schicken. Die haben nicht einmal deren Postleitzahl. Geld allein macht nicht unglücklich, denke ich mir und stimme zu.

Klick macht es.

Achtundfünfzig Minuten später ruft sie wieder an.

„Der Rat der Feen lässt dir Folgendes mitteilen: Geh bitte direkt nach unserem Gespräch zu der Telefonzelle an der Kreuzung Beethovenstraße/Höfingerstraße. In einem braunen Umschlag findest du ein Buch. Nimm es mit zu dir nach Hause und lies es sorgfältig durch. Ich melde mich in zwei Stunden wieder.“

Das klingt nicht sehr aufregend. Ich bin ein wenig enttäuscht. Ich habe zwar deutlich gemacht, dass ich mich nicht mit Trollen, deren Keulen mehr wiegen als ich selbst, prügeln werde, aber ein bisschen mehr als ein Buch abholen und lesen hätte es doch sein dürfen. Die Observierung eines vier Meter großen Trolls wäre ganz nach meinem Geschmack gewesen. Den hätte ich zumindest nicht so schnell aus den Augen verloren.

Die Telefonzelle steht leer, abgesehen vom Telefon, einem zerfledderten Telefonbuch und ungefähr 300 klebrigen Kaugummis, von denen ich mindestens ein Dutzend unter meinen Schuhsohlen mit nach Hause nehmen werde.

Auf dem Telefonbuch liegt ein brauner DIN-A5-Umschlag. Erst im heimischen Wohnzimmer traue ich mich, ihn zu öffnen. Er enthält ein kleines Taschenbuch mit dreißig Gedichten und 2000 Euro, die wie Lesezeichen zwischen den Seiten stecken.

Bisher habe ich immer gedacht, Gedichte seien langweilig und öde. Jetzt halte ich den Beweis für meine Theorie in der Hand. Phrasen wie „blaugrüne Träume träumend grasten graue Elefantentanten auf sattigen Waldweiden“ fressen Löcher in mein Gehirn. Nach einer guten Stunde habe ich das letzte künstlerische Werk geschafft. Genau genommen hat es mich geschafft. Ich schwöre mir, den Namen des Autors für immer in mein Gedächtnis einzubrennen, um nicht irgendwann aus Versehen eins seiner Bücher zu kaufen. Und um ihn zu erschlagen, falls er mir jemals über den Weg läuft.

Das Telefon klingelt.

„Der Rat der Feen hat mich beauftragt, dir mitzuteilen, dass du das Buch wieder an die Stelle zurücklegen sollst, an der du es gefunden hast. Beeil‘ dich!“

Klick.

Das Wort „Höflichkeit“ scheint in der Feensprache nicht zu existieren.

Kaum bin ich wieder zurück, erhalte ich den nächsten Auftrag: „Auf dem Spielplatz Grasweg findest du einen Weidenkorb, über dem ein rot-blau kariertes Handtuch liegt. In dem Korb befindet sich Geschirr. Nimm den Korb mit zu dir nach Hause und spüle das Geschirr gründlich ab. Ich melde mich in zwanzig Minuten wieder bei dir.“

Dreckiges Geschirr spülen! Ich bin wohl der erbärmlichste Geheimagent aller Zeiten. Agent Nullnullabwasch.

Der Spielplatz ist zum Glück nicht weit entfernt.

Einige Mütter tratschen miteinander, während ihre Nachkommen sich um einen Dinosaurus Rex aus Plastik streiten. Wie alle Kinder tragen sie Schuhe mit Klettverschlüssen. Wenn die Jungs einmal heiraten, müssen sie wahrscheinlich unter http://www.Schuhebinden.de nachschauen, wie man richtige Schuhe zuschnürt.

Der Korb steht einsam auf der hintersten Holzbank. Soll ich ihn mir einfach schnappen und unauffällig davonschlendern? Ich beschließe, mir erst mal einen genaueren Überblick zu verschaffen.

Ein Junge stolpert über einen Holzstamm und beginnt zu plärren. Die Mutter springt sofort besorgt herbei und tröstet ihn mit einem echten 52-Zähne-Keks. Damit besitzt der Keks 44 Zähne mehr als derjenige, der ihn essen soll. Stellt sich die Frage, wer da wen beißt.

Nach fünf Minuten sammeln die Mütter das verstreute Spielzeug ein und rufen nach ihren Kindern. Ein guter Zeitpunkt zum Verschwinden. Ich nehme den Korb vorsichtig hoch. Das Geschirr scheppert unangenehm laut.

Angemessenen Schrittes (welche Schrittgeschwindigkeit ist angemessen, wenn man einen Korb auf einem Kinderspielplatz klaut?) überquere ich den Rasen. Niemand scheint Notiz von mir zu nehmen. Ich umrunde gerade die Rutsche, als der Ruf hinter mir ertönt: „Hallo du!“

Ich heiße Andreas und nicht Hallodu, also gehe ich ungerührt weiter.

„Hallo du, mit dem Korb. Warte mal!“

Das geht nun doch eindeutig an meine Adresse.

Warten ist vielleicht keine so gute Idee, wenn man ein Dieb ist, denke ich und mache einen auf schwerhörig. Tatsächlich schaffe ich zwei weitere Schritte. Dann packt mich eine riesige Hand von hinten. Nun, so riesig, wie die Hand eines Vierjährigen eben sein kann.

Ich drehe mich um. Der Keksfresser hält meine Hose fest. Kleine, klebrige Kinderfinger krallen sich in meine frisch gewaschene Khakihose. Ich würde nicht einmal fest zuschlagen müssen, um ihm sein Nasenbein zu brechen …

„Du, Onkel, du hast dein Handtuch verloren.“ Er zeigt mit seiner anderen Hand (die ist natürlich sauber) auf das rot-blaue Tuch, das vom Korb gefallen ist. Fünf Meter hinter mir liegt es im Gras. Sechs große und acht kleine Augen beobachten mich argwöhnisch. Ich bedanke ich mich artig und lege den Stoff wieder auf meinen (?) Korb.

„Du, Onkel, hast du nicht ’ne Süßigkeit für mich?“, fragt mich der Metermann.

Wenn er sich das klebrige süße Zeug von meiner Hose abkratzen würde, könnte er sich damit eine ganze Woche lang den Magen verderben.

„Nein, tut mir leid, mein Junge.“

„Du, Onkel, vielleicht sind ja in deinem Korb Bonbons drin?“

„In meinem Korb sind riesige Giftschlangen drin, die kleine Kinder fressen! Willst du eine?“, flüstere ich und halte ihm den Korb genau vor seine Rotznase.

„Maaammmiii!!!“

Jetzt aber nichts wie nach Hause. Zwei Minuten für den Weg, falls das Handtuch an seinem Platz bleibt und noch vier weitere fürs Spülen. Im Korb befinden sich ein Fleischermesser, zwei Gläser, drei Teelöffel, eine Zuckerdose ohne Zucker (wie hätte ich den auch spülen sollen?), zwei kleine Teller und zwei 500-Euro-Scheine. Ich lege alles, bis auf die Euros (das wäre Geldwäsche gewesen), ins Spülbecken. Als ich die Aufschrift der Spülmittelflasche lese, muss ich grinsen. Fairy Ultra. Ist Fairy nicht das englische Wort für Fee? Zufälle gibt’s!

Nach zweieinhalb Minuten ist der Abwasch geschafft und das Telefon klingelt.

„Hast du das Geschirr gespült?“

„Yes. With Fairy my Fairy.“

Sie lacht nicht. Vielleicht kann sie kein Englisch. Für England sind wahrscheinlich andere Agentenanwerberinnen zuständig.

„Der Rat der Feen hat mich beauftragt, dir mitzuteilen, dass du das Geschirr mit dem Korb und dem Handtuch wieder an die Stelle zurückbringen sollst, an der du es gefunden hast. Ich melde mich in zehn Minuten wieder.“

Klick.

Warum mache ich bei so etwas mit?, frage ich mich, nachdem ich auch diese Aufgabe erfüllt habe. Die Antwort liegt vor mir auf dem Tisch. Die Zahl 500 steht drauf.

Das Telefon klingelt erneut. Wer mag das wohl sein?

„Hast du den Korb zurückgebracht?“

Nein, ich war auf einem Polterabend. Danke für das Geschirr.

„Jawohl. Auftrag ordnungsgemäß ausgeführt. Ich stehe für weitere Aufgaben zur Verfügung. Außer Abwaschen, Abtrocknen und alles, was im Entferntesten mit Gedichten zu tun hat.“

„Das ist gut. Der Rat der Feen hat mich beauftragt, dir mitzuteilen, dass du in deine Garage gehen sollst. Auf dem linken Regal steht eine Stahlkassette. Nimm sie mit ins Haus und verstecke sie irgendwo in deinem Kleiderschrank. Ich melde mich in zehn Minuten wieder bei dir.“

Klick.

Die spinnen, die Feen! Oder sind es nicht die Feen, die spinnen, sondern ich? Ist mein blaues T-Shirt in Wirklichkeit weiß und die kurzen Ärmel sind überdimensional lang und quer über meiner Brust zusammengeknotet? Momentan ist mir allerdings kein bisschen schizophren zumute.

Wie erwartet finde ich die Kassette in meiner Garage. 1000 Euro liegen darunter. Der dumme Spruch meines Nachbarn „Herr Müller, mache se besser ihr Garaschedor zu, sonschd schdelld iine noch einer was nei“ hat sich endlich bewahrheitet.

Fünf Minuten bleiben noch, um die Kassette in meinem Schlafzimmerschrank zu verstecken. Wo werden die Kobolde nicht suchen? Auf jeden Fall oben, denn sie sind ja klein. Das ist jedenfalls die landläufige Meinung, und eine andere habe ich nicht parat. Wenn ein Troll kommt, habe ich eben Pech gehabt.

Das Telefon klingelt pünktlich.

„Hast du die Kassette versteckt?“

… wie diese spannende und witzige Geschichte weitergeht, erfahren Sie in dem Buch …
Der Mann, der vergewaltigt wurde
Der Mann, der vergewaltigt wurde
… und andere Geschichten
Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-8-1

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Stichwörter:
Kurzgeschichte, Christof Ropertz, Feen-Agent, Fee, Agent, lustige Geschichte, Troll, Krimi

Written by Ronald

18. März 2017 at 12:31

Karin Reddemann: Mal so am Lagerfeuer

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Mal so am Lagerfeuer

© Karin Reddemann

James Curley starrte den Mond an und holte sich mit dem Messer Fleischreste aus den Zähnen. Die Männer schwiegen. Die Flasche kreiste, er entkorkte sie mit seinen Lippen, wenn einer daraus getrunken hatte, stopfte er das Ding wieder hinein, albern war das, unnötige Zeit.

Er drehte sich eine Zigarette und sah auf seine Fingernägel, die waren verflucht dreckig, seine Mutter hätte ordentlich getobt. Er dachte an sie und das blaue Kopftuch, das sie immer getragen hatte. Er dachte an ihren müden Blick und die alte Schürze, und irgendwie hätte er heulen können. Aber da waren die Jungs. Sie brüllten wortlos die Sterne an. Verflucht viele heute Nacht, dachte er, nahm noch einen Schluck und sagte sich, Kerl, die da oben sind alle tot.

Er fror, roch Schnee, der würde bald kommen, und die Pferde waren unruhig. Curley fiel die sonntägliche Messe ein, dort unten im Tal in diesem Kaff, das sein Zuhause gewesen war. Und er erinnerte sich an die Spucke seiner Mutter, mit der sie sein Haar vor dem Kirchgang geglättet hatte, an den Atem von Pastor Brown, immer Schnaps, rote Augen, fette Nase. Wie sein Vater.

Curley zog seinen Hut tiefer ins Gesicht, das war unnütz, er sehnte sich nach einem warmen Bett und einer warmen Frau, aber da war nichts, nur der Wind, der keuchte, um den Winter zu verkünden. Er legte sich die Wolldecke über die Schultern, sah unmännlich aus, war ihm egal, er wünschte sich ein schönes Bad und zärtliche Hände.

Da draußen irgendwo waren Wölfe. Klar, die wollen auch leben, dachte er, aber, Bastarde, mein Finger ist am Abzug.

Er hörte das Knacken in den Bäumen, er fühlte es wieder. Seit seiner Begegnung, wann war die gewesen, er empfand erneut diesen Schmerz, sah seine Mutter, all das Blut, seinen Vater. Den Mond.

Curley drückte seine Zigarette aus, das Lagerfeuer war fast erloschen. Er streckte sich. Er zuckte. Es begann.

Er richtete sich auf, warf die Decke ab, die Knochen, die Muskeln, das Fell. Noch war es gut, noch konnte er sprechen.

„Ihr sitzt hier und glotzt in die Nacht und wartet auf eine Geschichte. Dann haltet verflucht noch mal Eure Socken gegen den Wind, weil es hier nach drei Tage alten toten Coyoten stinkt, gebt mir den Whiskey, die Kaffeebohnen stinken auch, und hört einfach zu.

Ist noch Speck da? Ich werde verdammt hungrig, wenn ich erzähle.“

***

Mehr von Karin Reddemann:
Karin Reddemann: Gottes kalte Gabe
Karin Reddemann
Gottes kalte Gabe
Taschenbuch und eBook

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Stichwörter:
Kurzgeschichte, Karin Reddemann, Lagerfeuer

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18. März 2017 at 12:21

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Karin Reddemann: Die Fliege

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Die Fliege

© Karin Reddemann

Das war jetzt nicht sein Tag. Gekündigt, abserviert, und der Donut mit Schokofüllung schmeckte nach drei Tagen aggressiver Aufbewahrung.

Für ihn gemacht. Natürlich.

Er zog in Erwägung, die Bäckerei nochmals aufzusuchen, war nicht weit, er saß auf einer Bank direkt hinter dem Rathaus, gleich links ein Stück daneben war die.

Ofenfrisch. Von wegen.

Er sollte sich beschweren, überhaupt sollte er sich über alles beschweren, über Melanie und seinen Vater, über Köttelschwanz, seinen Lateinlehrer, über Köppen, der nur drei Mal hockam, über das Wetter und Kriege, über seine Mutter, die immer diesen gelben Fleecepullover trug, wenn sie sagte: „Mein Gott, Junge!“

Er überlegte, sich drüben im Tabakladen eine kleine Flasche zu kaufen, so was darf man machen, auch vormittags, wenn man ansonsten nichts zu tun hat, aber diese Fliege störte ihn, er wollte klar denken. Ging nicht.

„Hau bloß ab!“

„Meinst du mich?“

Da hatte sich denn unbekümmert jemand neben ihn auf die Bank gesetzt, grinste, graue Zähne, Pulle in der Hand.

„Nein. Die Fliege.“

„Ach? Schlückchen?“

„Danke.“

„Ich habe ein Loch in der Hose.“

„Ach was.“

Er trank aus der Flasche, wischte zuvor diskret den Hals mit dem Jackenärmel ab und dachte an tödliche Spucke. Gleichzeitig fiel ihm wieder Melanie ein, die viel kleiner und blöder war als er. Trotzdem hatte sie ihn am Genick gepackt. Noch geschickter als sein Chef, und das mit ihren winzigen Pfoten. Mama, dachte er, mach mir Hühnersuppe. Zigaretten brauch ich auch.

„Ich habe ein Loch in der Hose.“

„Hast du was zu rauchen? Zahl ich.“

„Klar, Mann. Ich habe ein Loch in der Hose.“

Er saß da nun und dachte, gut, fein, wenn dich jetzt jemand sieht hier, egal, verdammt, du sitzt friedlich mit dem da und der Fliege und diesem Loch und trinkst Fusel. Die Gestopfte nahm er, sah gelb aus, wie mit Urin durchtränkt. Ja, nun. Er rauchte, stellte sich Melanie und seinen Chef nackt auf dem Schreibtisch vor, knallte sie ab und ging zum Tee.

„Wo?“

„Was?“

„Das Loch.“

Er dachte, etwas Konversation schadet nicht.

„Ist weg. Guck.“

Der neue Freund strahlte.

„War ein Brandloch. Hab ich Klebe drauf gemacht. Jetzt sitzt da die Fliege. Die kommt da nicht mehr weg.“

Er starrte auf die Khakihose, tatsächlich, da zuckte die Fliege auf dem Knie, wohl ratlos.

„Gut gemacht.“

Der Tag konnte nur besser werden.

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Kurzgeschichte, Karin Reddemann, Fliege,

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18. März 2017 at 12:16

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Marianne Schaefer: Spuren im Schnee

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Spuren im Schnee

© Marianne Schaefer

„Sie kommen! In einer Stunde geht’s los. Nehmt nur die Kinder und das Nötigste, alles andere lasst zurück. Ich sagte, alles. Und haltet sie ruhig.“ Die vermummte Gestalt hastete, vom eisigen Wind getrieben, durch ein kleines Dorf in Pommern.

Im Haus Nummer dreizehn packte Hedwig Gularek mit flatterndem Herzen ihre vier Kinder in warme Sachen. Der achtjährige Nachbarsjunge Aaron Wappler und sein Hund Joschi sahen mit großen Augen auf das geschäftige Treiben.

„Beeil dich, zieh dich an!“, forderte Frau Gularek den Jungen auf. „Jahnke wird nicht auf uns warten!“

Der Junge rührte sich nicht.

„Was ist? Warum machst du nicht weiter?“

„Aber ich hab doch nichts zum Anziehen, Tante Gularek“, kam es schüchtern aus seiner Ecke.

Irene, die Sechsjährige rief: „Aaron kann doch …!“ Weiter kam sie nicht. Frau Gularek brüllte sie an: „Wenn ich noch einmal diesen Namen höre, plätt ich dir eine, dass dir Hören und Sehen vergehen. Für uns heißt er Georg und ist der Sohn eurer Tante aus Berlin. Verstanden?“

Die Kinder blickten verständnislos.

Frau Gularek wandte sich wieder dem Jungen zu. „Stimmt ja, Georg“, sagte sie. „Such dir etwas von meinem Ältesten aus. Und sag nicht Tante Gularek zu mir. Du musst Mama sagen und du musst auf Irene aufpassen. Du darfst ihre Hand nie loslassen, unter keinen Umständen! Hörst du, Georg?“

Sie blickte in seine rot umränderten Augen, aus denen seit Tagen keine einzige Träne mehr floss. „Du musst, Georg! Ich flehe dich an!“

Georg nickte nur stumm.

„Wir müssen es schaffen“, dachte sie voller Angst, „wir müssen! Es wird keinem auffallen, wenn ich statt vier Kinder plötzlich eins mehr habe. Diejenigen, die es wissen, werden schweigen, denn sie haben ihn mir selbst anvertraut, als seine Familie abgeholt wurde.“ Nur in einer kinderreichen Familie könne er überleben, hatte der Bauer Hausknecht gesagt.

Joschi, Georgs Hund, sprang freudig voraus, als sich die Gruppe durch den tiefen Schnee zum Sammelplatz kämpfte.

„Ihr seid wohl verrückt geworden!“, schrie Jahnke die Kinder an. „Bringt den Hund zurück ins Haus und schließt ihn ein!“

Wortlos brachte Georg seinen Joschi zurück. Die Haustür des kleinen Siedlungshauses ließ er einen Spalt offen und stellte eine Zinkwanne davor. Mit etwas Ausdauer und Geschick konnte der Hund sich selbst befreien. Bis dahin waren sie weit genug weg.

Der Weg war lang! Die Beine der Kinder wurden schwer, die Hände waren steif gefroren. Irene und Georg hielten sich schon längst nicht mehr an den Händen. Aus der Ferne erklang dumpfes Grollen wie von einem nahenden Gewitter. Die Menschen stoppten voller Angst und setzten dann ihre Flucht noch hastiger fort.

Irene fiel hin. Keiner achtete auf sie. Sie rappelte sich hoch, stürzte wieder. In der Dunkelheit verlor sie die Richtung, irrte so lange umher, bis sie vor Müdigkeit in einer Schneewehe liegen blieb. Dicke Flocken deckten alles Unebene zu.

In das Grollen des näher rückenden Maschinengewehrfeuers und das Donnern der Geschütze mischte sich das Winseln eines Hundes. Irene spürte etwas Warmes, Feuchtes in ihrem Nacken, etwas, das sie schubste. Erschöpft hob sie den Kopf. Sie öffnete die verkrusteten Augen, sah einen sternklaren Himmel und blickte in zwei braune, zärtliche Hundeaugen. Georg Wapplers Hund! Joschi gab keine Ruhe. Er sprang um sie herum und zerrte an ihrer Jacke. Irene kroch schließlich auf allen vieren hinter Joschi durch den Schnee. Das Grollen rückte näher. Joschi duckte sich, er zog seinen Schwanz ein, ließ Irene keine Atempause und drängte weiter, weiter, weiter …

Als Irene erwachte, sah sie Georg und seinen Hund abgesondert von der Gruppe in einer Ecke sitzen. Jahnke stand vor ihm und drohte: „Der Hund muss weg! Er wird uns verraten!“ Georg packte Joschi fester und streichelte ihn. Ein Schwall fremder Laute drang an ihre Ohren. Joschis Fell sträubte sich, er knurrte gefährlich und fletschte die Zähne. Georg wollte ihm das Maul zuhalten, doch Jahnke riss den Hund an sich. Kurz darauf hörte sie verzweifeltes Bellen, dumpfe Hiebe, leiser werdendes Gejaule, Gewimmer … Stille!

Georg war außer sich, er sprang hastig auf und rannte kopflos in den Wald.

Ein Schuss krachte …

Zurück blieben Spuren im Schnee.

Diese Geschichte stammt aus dem Buch
Antastbar. Die Würde des Menschen
antastbar
Die Würde des Menschen
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-12-8

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Stichwörter:
Kurzgeschichte, Marianne Schäfer, Schnee, Krieg, Vertreibung, Flüchtlinge

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18. März 2017 at 11:04

Bettina Buske: Ist ja wirklich so!

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Ist ja wirklich so!

© Bettina Buske

Anfang Mai 1990, über sechs Monate ist die Grenze zwischen Ost- und Westberlin offen. Karin und Ute stehen fröstelnd auf dem zugigen Bahnsteig der Hochbahnstation Schlesisches Tor. Sie haben am nächsten Tag ein Vorstellungsgespräch in einer Wilmersdorfer Hausverwaltung und wollen den Weg erkunden, um ja pünktlich zu sein. Die Stadt ist seit dem Mauerfall groß geworden, Entfernungen schwer einzuschätzen, wenn es den Westteil der Stadt betrifft.

„Ute, wie war der Besuch von deiner Kusine aus Bremen?“

„Hör bloß auf!“, antwortet Ute. „Ich hoffe, die seh ich nie wieder!“

„Warum das denn?“

„Ich hatte mich so gefreut, dass sie uns besuchen wollten, weißt du ja. Freitagabend sind wir essen gewesen, das war noch ganz nett. Nur fand ich komisch, dass ihr Mann ständig die Speisekarte kommentieren musste, wie billig das alles ist. Also, ich fand das gar nicht billig, hat mich über 100 Mark gekostet, der Abend. Ein Siebentel meines Gehalts. Beim Frühstück fragte er, was wir für Strom, Gas und Miete zahlen. Hab ich Blödi alles beantwortet. Warmmiete 95 Mark für drei Zimmer mit Zentralheizung, das hat der irgendwie nicht verkraftet. Das hättest du mal hören sollen, so aggressiv, wir sollen uns nicht einbilden, dass es so bleiben wird; das Billigleben ist vorbei, bald gilt: nur wer was leistet, kann sich was leisten. Dann fing meine Kusine an, sich über die Wohnung lustig zu machen. Haha, guck mal, keine Türpfosten, haha, guck mal, keine Scheuerleisten, guck mal, die Armaturen und hier, haha, Aufputzdosen. Ich dachte, ich spinne! Sich erst aufregen, wie billig alles ist, und sich lustig machen, wie billig alles gemacht ist. Die haben miteinander gesprochen, als wären wir nicht dabei. Nee, wirklich, die werde ich nie besuchen.“

„Aber mit deiner Oma verstehst du dich doch gut.“

„Ja, klar. Mit Oma verstehe ich mich bestens. Vielleicht waren sie ja so, weil sie darauf eifersüchtig sind.“

„Irgendwie hab ich Schiss vor morgen“, sagt Karin plötzlich. „Die sind so anders.“

„Die tun nur so“, antwortet Ute, „und mehr als dass man uns morgen doch nicht will, kann uns nicht passieren, also bleib ruhig.“

„Ich weiß nicht, ich hab da gestern im Dritten so eine Sendung gesehen …“

Karin hat noch nicht ausgeredet, da fragt Ute: „Drei Frauen in Schwarz? Eine dicke rothaarige Moderatorin und zwei Schnepfen?“

„Haste die auch gesehen?“

„Ja klar, fast zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Alle Ossis stinken und tragen Slipper mit weißen Socken und klauen anderen aus Einkaufwagen, was nicht im Regal liegt.“

„Ja, das fand ich so was von … Aber ein bisschen hab ich ne Vorstellung, was die meinen. Der olle Muff morgens in der U-Bahn, wenn man zur Arbeit fährt. Mäntel und Anzüge werden wohl zu selten gereinigt. Aber hier riecht es auch nicht nach Lavendel.“

„Eben. Noch mal auf die Sendung zurück, die eine war doch aus Hof. Hast du das noch gesehen, wie die sich darüber aufregte, dass die Ostler ihr schönes Kunstgewerbegeschäft heimsuchen und Etageren, die seit zehn Jahren kein Mensch mehr will, kaufen? Wie bekloppt war das denn? Ist doch wohl mehr als peinlich, solche Ladenhüter zu horten und dann noch zu meckern, dass die endlich weggehen. Wo sind wir jetzt?“

„Hallisches Tor.“

„Sieht ja nicht so schick hier aus.“

„Nee wirklich nicht, irgendwie wie bei uns.“

Die beiden schweigen eine Weilchen, dann fährt Karin fort: „Weißt du, als ich klein war, meinte ich, die Strecke von Friedrichsfelde zum Alex heißt U1, weil die von Pankow nach Thälmannplatz U2 hieß. Das war, glaub ich, das Erste, was mir von der Teilung der Stadt ins Bewusstsein kam. Die Nummern der U-Bahnlinien, die nicht zusammenpassten. U2 und U5, da fehlten drei Linien. Meine Eltern hatten mir dann erklärt, dass es eigentlich acht Linien waren und dass die Stadt geteilt wurde. Nur, irgendwie hab ich nicht verstanden, warum es zwei Berlin gab, wo es doch vier Mächte waren. Hätte dann doch jede Macht ein Berlin kriegen müssen!“

„Hab ich mir nie Gedanken gemacht. Und jetzt sind es sogar neun Linien“, gibt Ute zur Antwort. „Für meine Familie war die Einführung der Deutschen Mark und die Reaktion der Russen Ursache der Trennung. Jalta, da erhielten Berlin und Wien Sektorengrenzen, noch bevor der Krieg zu Ende war. Aber danach, Adenauers ‚Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb‘ hat die Russen ermutigt, ihre stalinistischen Kader einzusetzen und demokratische verschwinden zu lassen. Hat Opa gesagt, wenn Oma als Protest gegen die deutsche Teilung die Kerze ins Fenster stellte. Opa war früher Sozialdemokrat und hat in den 50ern lange in Bautzen gesessen. Was meinst du, ob Deutschland sich sonst ähnlich wie Österreich entwickelt hätte?“

„Wird nicht mehr zu klären sein, jedenfalls nicht von uns. Sag mal, Kerzen im Fenster, war das nicht eine Westaktion?“

Sie wollen wissen, wie diese Geschichte weitergeht?
Die vollständige Geschichte finden Sie in dem Buch
Mauerstücke. Erinnerungsgeschichten
Mauerstücke
Erinnerungsgeschichten
Hrsg. Bettina Buske und Patricia Koelle
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-08-1

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Stichwörter:
Kurzgeschichte, Mauerbau, Berliner Mauer, Mauerfall, Bettina Buske, Wiedervereinigung

Written by Ronald

18. März 2017 at 10:56

Silvia Friedrich: Fontane sagte nichts dazu

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Fontane sagte nichts dazu

© Silvia Friedrich

Als ich in den Achtzigern Teile meiner Familie in der DDR ausfindig gemacht hatte, standen sich zunächst Fremde gegenüber. Beide Seiten versuchten, dieses Fremdeln zu ignorieren. Wir taten so, als hätte es Krieg, eine Teilung des Landes, Trennung des Volkes nie gegeben. Ich, immer betont fröhlich. Zur Lustigkeit trieb mich die große Hoffnung, dass sie mir nicht anmerkten, wie froh ich jedes Mal war, diesen Käfig wieder verlassen zu können. Die DDR war mir als Nachkriegskind nur als ein Land bekannt, das man in Anführungsstrichen schrieb, wo man Pakete hinschickte, in die man so komische Dinge wie Kokosraspeln und Kakao packte und von wo zu Festtagen Karten kamen, die eigenartig einfach bemalt waren. Später lernte ich dann in der Schule, dass Willy Brandt mit seinen Ostverträgen die Lage entspannt hätte und dass das gut war. Zuhause schimpften sie darüber. Mein Vater, ein ehemaliger Brandenburger, hat nach Gründung der DDR dieses Land nie mehr betreten. Bis zu seinem Tode nicht. Und Brandt war für ihn auch erledigt.

Dann zog ich nach Berlin; und die Grenze, die die Welt in zwei Teile teilte, war gleich nebenan. Ich war neugierig. Neugierig auf das Land, das mein Vater verlassen hatte; und wenn er sich schon nicht mehr hierher traute, dann wollte ich es tun. Vielleicht für ihn, vielleicht auch nur für mich.

Auf Spurensuche nach meiner Vergangenheit stolperte ich über Friedhöfe im Ruppiner Land und sah mir die Klingelschilder an Neuruppiner Häusern an. Ganz in der Nähe des Sees sollte ich suchen auf ausdrückliche Anweisung meines Vaters. Denn da hätten sie gewohnt, die Menschen, die mit uns verwandt waren. Und ich suchte, stieg krumme Steintreppen empor, sah den Leuten nach, die aus den Türen kamen, und wagte mich sogar einmal, eine Frage an sie zu richten. Aber ich fand sie nicht, die von damals, die Menschen, die für meinen Vater einmal wichtig waren. Die Grabsteine auf den verwilderten Plätzen rund um die Dorfkirche und alle handgeschriebenen Namen an den Mietshäusern, nah am Wasser, gaben ihre Geheimnisse nicht preis. Vielleicht wohnten hier irgendwann einmal Verwandte. Jetzt gab es niemanden mehr.

„Er sitzt da, ganz hoch, auf seinem Thron“, hatte mein Vater gesagt und meinte damit den großen Fontane.

Tatsächlich, der saß noch immer dort, inmitten eines Platzes auf sandigem Boden und guckte über alle Maßen erhaben in die ungewohnte sozialistische Umgebung. Und sein Blick schweifte in die Ferne und schien zu sagen, er beteilige sich erst wieder am Weltgeschehen, wenn dieser Irrsinn hier in Deutschland endlich vorbei sei. Ich hatte mich auf die Steinstufen des Denkmals, gleich unter ihm platziert, ließ meine Blicke schweifen und sah zur Sonne hoch. Fremd war es mir hier. Fremd und ungewohnt. Welch feiner Herr, dachte ich über den Dichter aus Stein und fragte ihn, ob er vielleicht die Familie Wiesner kenne, die ich hier überall suche. Aber Fontane antwortete nicht. Er zog es vor, arrogant zu blicken und abzuwarten. Ein Brautpaar kam aus einem offiziellen Haus mir gegenüber. Hier heiratete man also samstags, dachte ich. Die Braut in Weiß, ein Nelkensträußchen schwenkend, hielt sich an ihrem Mann fest. Sie war unübersehbar schwanger. Eine kleine Hochzeitsgesellschaft folgte den beiden. Jemand schob einen Kinderwagen als Geschenk vor sich her. Man jubelte und machte Fotos. Ganz wie im Westen, nur weniger üppig. Ich löste mich von der ideologisch sicher einwandfreien Zeremonie, stand auf, ohne ein weiteres Ziel zu haben, klopfte mir den märkischen Staub vom Kleid und ging in Richtung Löwen-Apotheke. Wenn der große Sohn dieses schönen Ländchens mir schon nicht helfen wollte, so konnte ich seiner Apotheke dennoch einen Besuch abstatten.

Mit einem Foto meines Vaters bewaffnet besuchte ich später ein weiteres Dorf ganz in der Nähe und siehe da, der Zufall – oder war es doch des Neuruppiner Dichters geistige Unterstützung – schickte mir urplötzlich eine entfernte Verwandte über den staubigen Dorfweg. Sie erkannte das Foto, sah Familienähnlichkeiten in meinem Gesicht und war so laut, dass einige der älteren Dorfbewohner sich genötigt sahen, aus ihren Fenstern zu blicken.

Dann zog mich die Tante in ihr Haus, erzählte, dass es nur Weihnachten Orangen gab, für jeden genau eine und dass es mit der Verteilung der Bananen genauso wäre. Sie wollte nicht viel von mir wissen, erklärte mir eher ihren Versorgungszustand; und als ich wieder ging, nahm ich mir vor, nun auch Päckchen zu packen mit Kokosraspeln, Kakao und Kaffee. Und dann schickte ich alles in diesen kleinen Ort ins Brandenburgische und fragte mich, was Fontane dazu wohl gesagt hätte.

Sie wollen wissen, wie diese Geschichte weitergeht?
Die vollständige Geschichte finden Sie in dem Buch
Mauerstücke. Erinnerungsgeschichten
Mauerstücke
Erinnerungsgeschichten
Hrsg. Bettina Buske und Patricia Koelle
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-08-1

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Stichwörter:
Kurzgeschichte, Mauerbau, Berliner Mauer, Fontane, Silvia Friedrich

Written by Ronald

18. März 2017 at 10:52

Anne Bergmann: Jazz in Berlin

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Jazz in Berlin

© Anne Bergmann

Wenn die Stille selbst schon einen gewissen Lautstärkepegel besitzt, verlieren alle Geräusche an Stärke. Das Bellen eines Hundes klingt nicht mehr so gefährlich, Stimmen verlieren sich in der Luft, und es kann passieren, ein Flüstern versickert unbemerkt.

Hier in der Stadt ist es so, da ist die Stille nicht geräuschlos. Ich weiß das, denn ich kenne den Unterschied. Ich weiß, was völlige Stille ist. Die geborenen Städter mögen das nicht einmal bemerken, wie sie die Helligkeit der Nacht nicht bemerken. Man sieht hier in der Stadt lange nicht so viele Sterne wie in Drahnsdorf. Nicht einmal die Milchstraße schält sich aus dem orange-gelben Glimmen des Nachthimmels heraus.

Ich habe sie von Anfang an vermisst, gleich nach meiner ersten Nacht in Berlin, und ich habe die Stille vermisst. Vor allem aber auch die Geräusche, denn in der Stadt sind Geräusche nichts Besonderes mehr, sie gehen unter in ihrer Masse wie die Menschen.

Manchmal nimmt man jedoch ein besonderes Geräusch wahr – wie den Fetzen einer Saxophonmelodie. Manchmal begegnet man einem besonderen Menschen, doch dann überhört man ein Flüstern.

Ich hatte eine kleine Wohnung in Pankow bezogen, in der Nähe einer Kirche, deren Glocke ich zu jeder Stunde schlagen hörte. Bald brauchte ich dadurch nicht mehr auf die Uhr zu blicken – ich musste nur genau hinhören. Ja, wenn ich genau hinhörte, konnte ich mir, trotz der lauten Stille, besondere Geräusche ausschneiden wie Scherenschnittpapierfiguren.

Ich arbeitete in einem Modewarenhaus als Verkäuferin und Beraterin. Diese Anstellung habe ich durch Beziehungen erhalten. Ein Freund meines Onkels kannte jemanden dort. Endlich war ich weg von zuhause, endlich konnte ich tun und lassen, was ich wollte, solange ich nur immer pünktlich zur Arbeit erschien.

Doch was sollte ich mit so viel Freiheit anfangen?

Was macht ein musikliebender Dieb, der in einen Plattenladen eingebrochen ist? Wahllos über die Platten herfallen oder gelähmt vor den Verheißungen in bunten Hüllen sitzen, nicht fähig zu einer Entscheidung? Bis sein Kumpel ruft: „Jetzt hilf mir doch mal mit der Kasse!“

Für mich hätte wohl eher Letzteres gegolten. Die Freiheit wirkte plötzlich nicht mehr so verführerisch, jetzt, da ich sie erreicht hatte. Aus der Ferne betrachtet hatte sie interessanter ausgesehen. Außerdem kannte ich mich überhaupt nicht aus. Es gab so viele Möglichkeiten, aber ich kannte sie nicht.

Wo waren die Jazz-Clubs? Wo spielten die guten Musiker, in welchen Winkeln – abgeschirmt vor den missbilligenden Blicken des Vaterlandes? Aber auch abgeschirmt vor meinem interessierten Blick, das war das Problem.

Und ich vermisste die Sterne und die Stille … konnte man das schon Heimweh nennen?

Eines Abends saß ich in meiner kleinen Wohnung und starrte an die Wand. Da war nicht so viel zwischen meinem Blick und ihr, ich hatte noch nicht viele Möbel. Überhaupt wirkte meine Wohnung gar nicht wohnlich, sondern noch unberührt von meinem Leben. Aber was erwartete ich denn … zu diesem Zeitpunkt war auch mein Leben noch unberührt von meinem Leben.

Vor zwei Wochen war ich in Berlin angekommen, ich war gerade neunzehn Jahre alt geworden, die Beatles und die Stones waren noch nicht dabei, die Jugend der DDR zu vergiften, und Berlin war eine ungeteilte Stadt. Noch.

Von all diesen „Nochs“, die auf der Zeit lagen wie Adlerschatten auf einem Feld, wusste ich nichts.

Sie wollen wissen, wie diese Geschichte weitergeht?
Die vollständige Geschichte finden Sie in dem Buch
Mauerstücke. Erinnerungsgeschichten
Mauerstücke
Erinnerungsgeschichten
Hrsg. Bettina Buske und Patricia Koelle
Dr. Ronald Henss Verlag
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Kurzgeschichte, Mauerbau, Berliner Mauer, Jazz, Anne Bergmann

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18. März 2017 at 10:49

Thomas Stefan: Zettelwirtschaft

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Zettelwirtschaft

© Thomas Stefan

Die beiden Weißkittel standen schon eine Weile nebeneinander und starrten interessiert durch die große Scheibe. Sie beobachteten den Neuankömmling. Er saß auf dem Bett und wiegte seinen Oberkörper hin und her wie ein buddhistischer Mönch. Ein kleines handgeschriebenes Schild an der Tür ohne Klinke gab dem Menschen einen Namen: Werner Specht.

„Wann wurde er eingeliefert, Masur?“

„Gestern Abend, Herr Professor.“

„Einweisung durch richterlichen Beschluss?“

Der Oberarzt sah kurz auf die Unterlagen. „Nein, die Ehefrau besitzt schon lange die Vormundschaft. Sie hat den Notarzt gerufen und uns einige Informationen gegeben.“

Etwas mitleidig schaute er wieder zu dem Neuen.

„Und weiter, Mensch, Masur, lassen Sie sich doch nicht immer alles aus der Nase ziehen.“

Der beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen. „Eigentlich ist er ein alter Kunde. Ursprünglich ein Politischer, saß acht Jahre in Bautzen ein, ist seitdem psychisch völlig aus der Bahn. Genaues wissen wir noch nicht. Er befand sich schon einmal bei uns in der Charité, 1969, für mehrere Monate. Lebte danach zu Hause, betreut durch seine Frau. Über zwanzig Jahre keine Besonderheiten. Und nun kam es beim täglichen Spaziergang zu einem Vorfall. Er ist über einen Mann brutal hergefallen. Es ist noch nicht klar, ob es sich um einen Bekannten handelte oder ob es Zufall war. Jedenfalls will der Betroffene auf eine Anzeige verzichten.“

„Hmm“, meinte Professor Fischer nachdenklich, „das klingt alles sehr merkwürdig. Haben wir von damals noch Unterlagen?“

Masur schüttelte den Kopf. „Nein, nichts zu finden. Und wenn wir noch was gehabt hätten, dann wäre es wahrscheinlich den Bilderstürmern oder irgendwelchen Beauftragten in die Hände gefallen. Im Moment tauchen ja jeden Tag Leute auf, angeblich Offizielle, die irgendwas suchen. Und wenn sie weg sind, fehlt eine Menge.“

Professor Fischer blickte zum Kalender an der Wand. Eine mitlaufende rote Datumsmarkierung zeigte den Tag an: 3. Juli 1990.

„Tja, es sind besondere Zeiten, Masur, in denen wir unsere Arbeit machen und so arme Würstchen wie diesen Specht versorgen müssen. Und genau den lege ich Ihnen ans Herz. Vorerst werden wir nur über die Ehefrau weiterkommen. Ansonsten, Sie kennen ja mein neues Behandlungskonzept: Schnell mit Elektrotherapie beginnen. Hat sich immer bewährt, jedenfalls dort, wo ich herkomme.“ Und Fischer taxierte noch einmal den Patienten.

„Westmethoden!“, dachte Masur, sagte aber nichts.

Elfriede Specht war eine etwa fünfzigjährige Frau. Sie saß Masur mit maskenhaftem Gesicht gegenüber. Die vielen kleinen Fältchen um die Augen zeigten ihre Erschöpfung. Auf dem Schoß umkrampften die Hände eine alte Tasche.

„Ihr Mann war schon einmal bei uns, vor fast zwanzig Jahren, das ist doch richtig?“, begann Masur vorsichtig.

„Ja, das stimmt“, erwiderte sie mit leiser Stimme, biss sich leicht auf die Unterlippe. Nur nicht zu viel sagen.

Masur lächelte. „Das war weit vor meiner Zeit. Ich lebe seit dem Frühjahr wieder hier, bin nach der Wende zurückgekommen. Erst Prag, die Botschaft, dann den Westen erschnuppert, jetzt doch lieber zurück. Bin halt ’ne Ostpflanze. Sie wissen schon, was ich meine.“ Masur blickte auf das vor ihm liegende leere Blatt. „Wir haben von damals keine Unterlagen mehr, es würde uns helfen, wenn Sie mir etwas über seine frühere Behandlung sagen könnten.“

Sie taxierte ihn. Plötzlich war es in dem kleinen Büro sehr still. Dann hatte sie sich entschieden.

„Mein Mann war früher Redakteur. Wir haben uns hier in Berlin kennengelernt, 1958. Er war 25 Jahre alt, hatte gerade seine erste Anstellung, bei der Jungen Welt. Ich war Schülerin, kurz vor dem Abitur. Es war Liebe auf den ersten Blick.“

Masur hatte seinen Stift beiseite gelegt.

„Wir haben schnell geheiratet. Es war wunderbar, wir hatten so viele Pläne, Hoffnungen. Im Nachhinein unsere beste Zeit, wir haben es damals nur nicht gewusst. Aber dann kamen schnell die beruflichen Einschränkungen, die Direktiven, Verbote, Zensur. Werner war aber keiner, der so schnell in die Knie geht, der alles schluckt. Er wurde mehrfach vor die Kommission zitiert, verwarnt. Irgendwie war er schon auf Bewährung, das haben wir beide geahnt. Und dann kam der 13. August, der Mauerbau, 1961. Wir konnten es nicht fassen.“

Sie hielt ein, walkte ihre Tasche durch und blickte durch das Fenster nach draußen, als könnte sie die Ereignisse von einst dort wieder sehen.

„Werner war wie von Sinnen, ließ sich nicht beruhigen, wollte nur noch raus. Ich konnte ihn nicht aufhalten, hatte selbst so furchtbare Angst, dass etwas geschehen könnte. Ich habe den ganzen Tag und die Nacht gewartet, aber er kam nicht wieder. Dann, am nächsten Morgen, der Anruf. Er war festgenommen worden, warum, sagte man mir nicht. Später hieß es, staatsfeindliche Umtriebe, Republikflucht. Erst Tage später durfte ich ihn besuchen. Er saß in einer kleinen schmuddeligen Zelle, war nicht mehr wiederzuerkennen. Von da an war er ein gebrochener Mann. Was man mit ihm gemacht hat, ich weiß es nicht, jedenfalls sprach er seit jenem Tag kein Wort mehr, nicht ein einziges, zu niemandem, auch nicht zu mir. Es war ein Rückzug in sich selbst. Dieser beredte Mann, der immer so wortgewandt, mitteilsam, witzig und charmant war, schwieg fortan. Als wäre seine Fähigkeit zum Kommunizieren eingemauert worden.“

„Was warf man ihm vor?“, fragte Masur.

Sie sah ihn an wie aus einer anderen Zeit kommend. Stockend fuhr sie fort: „Er … ist an der Grenzlinie entlanggelaufen, soll immer wieder auf die Soldaten, die Bauarbeiter eingeredet haben, und hat dann versucht, die frisch gesetzten Steine wegzudrücken, die Mauer wieder einzureißen. Er ist festgenommen worden, soll sich wie ein Berserker aufgeführt haben. Was man danach mit ihm machte, kann man sich vorstellen.“

Frau Specht schwieg, sah verloren vor sich hin. Masur wollte heißen Kaffee nachschenken, sie schüttelte nur den Kopf.

„Und, wie ging es weiter?“, fragte der Arzt vorsichtig.

Sie wollen wissen, wie diese Geschichte weitergeht?
Die vollständige Geschichte finden Sie in dem Buch
Mauerstücke. Erinnerungsgeschichten
Mauerstücke
Erinnerungsgeschichten
Hrsg. Bettina Buske und Patricia Koelle
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-08-1

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Stichwörter:
Kurzgeschichte, Thomas Stefan, Mauerbau, Berliner Mauer, Zettelwirtschaft, Arzt, Psychiatrie,

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18. März 2017 at 10:44

Karin Reddemann: The good young days

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The good young days

© Karin Reddemann

Ich liebte ein Kind. Es hätte meines sein können, wäre ich jemals dafür bereit gewesen. Aber ich blieb gern allein, nahm gedankenlos, übermütig vielleicht die quälende Einsamkeit in Kauf, die mich irgendwann erwarten wird, vermisste nichts, weil ich glaubte, ewig jung und großartig sein zu dürfen. Und stahl mir später, mag sein, aus Trotz, aus Wut über meine schleichende Verwelkung den Sohn einer anderen.

Die Alten hatte ich in mir gehabt, habe zugesehen, wie sie in meinen Armen verblühten, greise Kerle, Mitte, Ende Dreißig, die ich nicht mehr sprechen, fühlen, schmecken wollte. Ich war hungrig auf sein glattes sehniges Fleisch, trank gierig meine längst verflossene Jugend aus seinen babyblauen Augen … blau, wie auch meine gewesen sein müssen, als ich aus meiner Mutter geschlüpft war, irgendwie im Irgendwo. Sie wurden dunkel, fast schwarz, und mir war früh bewusst, nicht die niedliche Puppe zu sein, als die meine Schwester galt. Entzückend hat man mich nie genannt. Nur nett. „Ein wirklich nettes Kind.“ Das war ich. Ruhig, damals noch pummelig, übersät mit fliegengroßen Sommersprossen, stets höflich, fleißig. Nett.

Schön wurde ich schleichend. Und irgendwann war ich fertig. Es war so, als hätte jemand jahrelang an mir herumgemalt, den Pinsel immer wieder in neue Farben getaucht, Skizzen zerknüllt und sich dritte, vierte Versuche erlaubt, um es gut zu machen. Perfekt? Nein. Aber mein Bild ist gelungen, ist stimmig geworden, und ich mochte es, als besonders bezeichnet zu werden. Unsicher war ich mir immer, bin es heute noch, wenn Menschen meine Begleitung suchen. Meiner Schönheit, meiner Ausstrahlung war ich mir nie wirklich bewusst, lebte in mir selbst und verkaufte mich freiwillig, indem ich mich zeigte, wie ich nicht bin. Ich habe viele Männer gehabt, und ich hätte mehr haben können, wäre ich auf das eingegangen, worum sie gebettelt haben. Christian bettelte nicht. Er stand einfach vor mir, es war ein Straßencafé in der City, ein guter, sonniger Tag, blickte leicht amüsiert, wie ich peinlich berührt gedacht hatte, auf den trockenen Martini, der mir zur Mittagszeit auf meinen Wunsch (natürlich) gebracht worden war, und fragte nach Feuer.

Heute frage ich mich, was seine Mutter empfunden hat, all die Sommermonate, die ich mit ihm teilte, ich, eine Frau, nur zwei Jahre jünger als sie selbst. Ich habe diese Zeit genossen, und ich will sie auch nicht vergessen. Obgleich ich durchaus quälende Gedanken habe, wenn ich zurückdenke, mich ins Gericht nehme, was ich nicht mag, weil ich ehrlich sein muss: Ich hätte ablehnen können, als er mich auf einen zweiten Martini einlud, – er selbst trank Tonic, ich war die Alte, die anderes braucht -, und er war so jung, so lächerlich jung. Er war der, den ich in meinem Schlafzimmer haben wollte. Oder über dem Küchentisch, auf mir im Auto mit einem Lenkrad im Kreuz … egal. Sein Stirnhaar trieb Spielchen mit seinem Gesicht, sein Lachen war so weiß und echt. Freche Klamotten trug er, ich kam mir spießig vor in meinem Leinenanzug und wusste doch, dass ich ihm gefalle.

Als ich zum ersten Mal mit ihm schlief, gab ich mein Bestes. Für mich war es wie eine Zeitreise; ich fühlte mich zurück versetzt in meine besten Jahre, als es mir noch wichtig gewesen war, den Sex mit einem Mann so zu gestalten, als sei allein er der Regisseur. Christian freilich schaffte es, mich so zu befriedigen, wie es kaum ein anderer geschafft hatte. Er ließ mich nicht spüren, was ich zu verdrängen versuchte: Das Verlangen, eine Frau zu sein, die mit Gewalt versucht, so straff und süß zu sein, wie sie es niemals wieder sein wird. Er sagte: „Du bist mein Honig. Ich lecke dich auf.“ Und ich, so erfahren, so abgeklärt, präsentierte mich devot und ließ mich essen. Ich fragte ihn, so atemlos, wie es sein muss und wie es auch gut ist: „Wo hast Du das gelernt?“ Er zuckte mit den Achseln, lachte sein Lachen, das ich heute noch in mir trage wie das Diamantcollier, das niemand mir jemals geschenkt hat (unwichtig). Und ich war glücklich.

Wir trafen uns noch oft, stets heimlich, manchmal auch zu unbedarft an Orten, die hätten entdeckt werden können. Auf einer der Nordseeinseln lagen wir nackt am Strand, ich hörte ihn ab, spanische Literatur. Wir liebten uns dort, wo jeder uns hätte sehen können, leckten uns gegenseitig den Sand von den Lippen und spuckten ihn kichernd aus, wie unschuldig Verliebte es machen. Seine Haut war Salz, Muskel, Afrika, so braun war er, und ich mit meinen Sommersprossen und dem Pferdeschwanz war das Kind, das normalerweise ich an die Brust gedrückt hätte.

Danach ließ ich ihn gehen. Mehr als ein kurzer Sommer hätte es nicht sein dürfen. Eine Entschuldigung gibt es nicht. Weil es keine geben muss. Ich hätte ihn als Sechzehnjährige gewollt, ihn scheu beobachtet, errötend angelächelt, wenn sein Blick auf mich gefallen wäre, und ich wollte ihn als Vierzigjährige. „His picture reminds me of the good old days.“ Oder an die jungen Tage. So einfach ist das.

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Mehr von Karin Reddemann:
Karin Reddemann: Gottes kalte Gabe
Karin Reddemann
Gottes kalte Gabe
Taschenbuch und eBook

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Stichwörter:
Kurzgeschichte, Karin Reddemann, Liebesgeschichte

Written by Ronald

18. März 2017 at 10:31

Karin Reddemann: Evas Eva

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Evas Eva

© Karin Reddemann

Während meiner Studienzeit liebte ich Gabriela. Ich liebte sie anders als einen Mann, dessen Blick stets ausreicht, um zu verstehen, was er will. „Lass es mich machen.“ Und ich wäge ab, streiche mein Haar hinters Ohr, zeige mich kühl oder bitte, ohne wirklich zu bitten, um noch mehr Aufmerksamkeit: „Fest, fester, mach es so, dass ich dich morgen noch spüre. Und vielleicht auch übermorgen noch will.“

Bei Gabriela war ich mir nicht sicher. In ihren leicht schräg stehenden Augen, die fast schwarz hätten sein müssen, um dieses schmale, feine Gesicht authentisch zu machen, schwammen goldbraune Punkte in einem satten Grün, die mich unruhig werden ließen, wenn sie mich ansah und dabei wie selbstverständlich ihre Hand auf meinen nackten Unterarm legte. Manchmal küsste sie mich spontan auf den Mund, fuhr mit ihren Fingern durch mein kurz geschnittenes Haar und kniff mich eine Spur zu fest in den Nacken. „Du könntest mein Bruder sein.“ Damit kränkte sie mich. Ich wollte nicht, dass sie mich so sah. Meine Lippen sind eine Spur zu schmal, aber meine Wimpern sind lang und dicht, und immer noch ist mein Busen recht groß und fest. Und schon damals mochte ich es durchaus, wie eine devote Debile, aber eben wie eine Frau, auf gewolltes Kommando die Beine zu spreizen, um dieses dicke Stück Fleisch in mir auf zu nehmen, das Markus und Sergio und Bernd gemeinsam hatten. Muskelstränge, Fett, oder eben Fleisch … egal. Anatomie war nie meine Stärke. Sie gefielen mir einfach. Sie waren rosarot mit dunkler Spitze, und sie rührten in mir wie in einem Topf mit Rotweinsauce. Passt hervorragend zu Wild, ich weiß, hätte mich auch gern so empfunden. Ich war das Gegenteil, lehnte mich fast scheu, aber auch neugierig wie ein Kind, das keine störrischen Vorurteile kennt, einfach nur zurück und ließ sie, ließ sie auch, wenn ihre Köpfe zwischen meinen Schenkeln eintauchten, um an mir zu saugen. Widerwillig kostete ich sie auch, sie drängten mich, – „Nimm ihn doch mal, sonst platze ich“ -, und irgendwann gefiel es mir sogar, obwohl keiner wirklich schmeckte.

Der Sommer mit Gabriela, später auch mit Christoph, stärkte mich in meinem Beschluss, mein Haar wieder wachsen zu lassen und meine hohen Wangenknochen mit bräunlicher Röte zu betonen, um femininer zu wirken. Nie wieder Bruder, bitte. Einen festen Freund hatte ich damals nicht, es war mir wichtiger, mich auf meine Bücher zu konzentrieren. Die ich vergaß, als Gabrielas Hand mir während einer Vorlesung kurz vor der großen Sommerpause über den Rücken krabbelte und dabei langsam meine kurze karierte Bluse bis zum Haken meines BHs nach oben schob. Ich dachte: Was macht die Wahnsinnige da? Und gleichzeitig wollte ich mehr, wünschte mir, die Finger würden meine Brüste streifen, erst nur wie zufällig, dann forscher, würden weiter nach vorn wandern, bis zu den Vorhöfen, würden dort ungeduldig warten, während ich längst schon auf meinem Stuhl hin und her rutschte, mit diesem göttlichen Gefühl ganz da unten, das so dreist und unbekümmert ankündigt, was noch passieren könnte. Wir saßen ganz oben in der letzten Reihe, niemand hätte das beobachten können, und trotzdem wurde ich ganz starr und lästig rot. Vermute ich. Noch immer bin ich ein Mensch, der ungern, aber oft errötet, das habe ich niemals ablegen können, und ich hasse es, weil es mich durchsichtig macht. Frank fand es niedlich. Gabriela sagte nichts dazu. Sie sagte: „Du hast solch eine weiche Haut. Als wärst du in einen Milchtopf gefallen.“

„Herbe Blume“ nannte mich meine Tante Vicky, bei der ich bis zum Hauptstudium wohnte, um danach mit Frank zusammenzuziehen. Aber das ist eine andere Geschichte. Gabriela verdanke ich, dass ich es niemals vergesse, mich zu rasieren, dort, wo es weich und sanft ist, wenn keine lästigen Locken mehr stören, um streicheln und lecken zu können, was bei Gabriela nach süßer Schlagsahne mit gezuckerten Erdbeeren roch. Vermutlich hatte ich mir das nur eingebildet, mag sein, einfach gewünscht. Tatsächlich war es eine einfache Körpercreme mit dezentem Vanilleduft, die sie benutzte, um sich einzureiben, auch zwischen Schenkeln und Pobacken. Ich tat es ihr nach, wählte aber eine andere Sorte. „Das ist, als würde ich an frisch gemähtem Gras lecken.“ Sagte sie lachend und irritierte mich damit. War das gut so, mochte sie das?

Erst viele Jahre später traute ich mich, sie zu fragen. Gabriela war längst schon mit Christoph verheiratet, zum zweiten Mal schwanger, hatte das Studium vor Urzeiten abgebrochen, und ich sah in ihr immer noch dieses süße, elfenhafte, strahlende Mädchen, das ich einmal gekannt und geliebt hatte. Wir trafen uns in einem urigen Weinkeller in Münster, zu dekadent, zu teuer für uns vor zwanzig Jahren, sie so entzückend, ich so klug und geschieden und auf strenge Art schön. „Du hast wie Freiheit geschmeckt. Wie die Erde, unter der wir einmal liegen werden.“ Sie war schon leicht betrunken, als sie das sagte. Ich hätte weinen können, vielleicht fühlte ich mich auch schlicht befreit. Irgendwie traurig. Und einfach nur gut.

In unserem Sommer trugen wir bunte Pluderhosen vom Trödelmarkt und abgeschnittene T-Shirts, manchmal auch luftige gebatikte Kleider mit dünnen Trägern. Es war ein heißer Sommer, in dem ich mich in Gabriela verliebte, und die stehende Hitze machte mir zu schaffen, zumal ihr Geruch nach süßlichem Schweiß und Moschusöl mir jeden Tag aufs Neue quälend in die Nase stieg wie ein verbotener exotischer Duft, den in einem Flacon abzufüllen und auf ewig zu bewahren mir nie vergönnt sein würde.

Gabriela lebte zusammen mit Christoph in einer völlig mit Kitsch und Büchern überladenen winzigen Wohnung ganz in der Nähe des Uni-Centers, und manchmal, wenn ein Sommertag besonders trocken und müde war, quetschten wir uns zu dritt auf die schmale hölzerne Bank auf dem Balkon, der zur Westseite ging und uns den Sonnenbrand gönnte, von dem die zugequalmten Seminarräume trotz weit geöffneter Fenster uns nur hoffnungslos träumen ließen. Damals wurde dort noch geraucht, mein Lieblingsprofessor schaffte es auf zehn Zigaretten in knapp zwei Stunden, und während er uns vom Sturm und Drang der jungen, sehnsuchtsvollen Schwärmer erzählte, ließ er sich von seinem ernsten, muskulös gebautem Assistenten Feuer geben und den Nacken massieren. Vielleicht ist der dunkelhäutige, selten nur lächelnde Beau heiterer und weicher geworden, als Professor Schmelting ihn mitnahm über den großen Teich, einige Jahre früher, als das Rentenalter ihm den offiziellen Abschied ermöglicht hätte. Heute stelle ich mir vor, wie Schmelting dort auf seiner Veranda mit einem Glas Eistee, vielleicht auch Whiskey sitzt, ein schnarchender gelber Hund zu seinen Füßen, er selbst faltig und grau und gefangen in einer Vergangenheit, die immer noch von festen Händen auf seinem Körper spinnt…von einem dicken, langen Stück Leben, rosig wie ein nur kurz angebratenes Steak, für das er sich ergeben und fiebrig positioniert, Handflächen und Knie abgestützt, die Lippen wund, das Kinn zerkratzt vom Bart seines Geliebten, der längst schon seinen Mund mit frischerem Fleisch füllt.

Tatsächlich waren Gabriela, Christop und ich glücklich auf diesem Balkon, wenn die Sonne ihre roten heißen Spuren auf unseren Nasen und Schultern hinterließ, weil wir uns im Süden und damit im grenzenlosen Nichtstun wähnten. Wir tranken billigen Weißwein, abscheulich süß, aber gut gekühlt, und Gabriela zog ihr Baumwolltop aus, zeigte stolz und übermütig ihre kleinen, festen Brüste, trotzig fast, wenn der Nachbar neugierig herüber schielte, und lachte Christop aus, wenn der sie zu bedecken versuchte. „Ella, bitte, man sieht dich.“ Ich betrachtete sie gern. Sie war zartgliedrig, recht klein mit hüftlangen rotgoldenen Locken, die sie mit Seidentüchern, stets in den schillerndsten Farben, im Nacken bändigte, und ich konnte mich nicht losreißen von ihren Brustwarzen, die immer steif und fest standen, als hätte jemand, – Christoph? Ich? -, unmittelbar zuvor an ihnen gesaugt oder sie mit einem Eiswürfel umkreist, um schließlich die Spitzen vorsichtig zu betupfen. Ich selbst bin groß und schlank und selbst als Kind nie niedlich genannt worden. Meine Nase ist zu lang und so grade wie die eines römischen Kriegers, der nicht schön sein muss, um zu beeindrucken. Mir gefällt sie nicht, sie macht mich hart. Meine Augen sind von einem schmutzigen Blau, mein Lächeln ist scheu, und damals hatte ich diese Unart, leicht gekrümmt zu laufen, weil ich gern kleiner gewesen wäre, hilfloser, schutzbedürftiger. Gabriela war herrlich unkonventionell. Sie kokettierte, mag sein, oft unbewusst, obgleich sich ihrer fast kindlichen Reize mit Sicherheit bewusst, und sie hatte diese Lippen, die ich wollüstig taufe, obgleich das Wort so antiquiert zu sein scheint wie das von elterlichen Vorstellungen geprägte Weltbild der Zweiundzwanzigjährigen, das ich in meinem Kopf zu verteidigen bemüht war: Frauen begehren andere Frauen nicht. Sie haben Schwestern, Freundinnen, aber sie genießen es nicht, bei einer Umarmung die Brüste der anderen zu spüren. Und mehr berühren zu wollen. Um auch berührt zu werden.

Meine Erinnerung an Maria habe ich mittlerweile lieb gewonnen. Damals – ich war siebzehn – lagen wir in einem riesigen Doppelbett in einem kleinen Dorf in der Nähe von Valencia, das war eben so, ihre Eltern hatten sich auch nichts dabei gedacht, hatten mich eingeladen, die Ferien mit ihnen und den sechseinhalb Kindern (eins war noch im Bauch) zu verbringen. Wir alberten mit spanischen Jungs herum, Marias Mama riet uns, die Augenbrauen zu zupfen („Siehte nich gut aus sonz“) und keine „komiken“ Selbstgedrehten anzunehmen („Da isse Hassiss drin“). Maria war eine Schulfreundin, Halbspanierin, und sie selbst hatte eine übermütige Freude daran, wenn ihre Mutter „Jezz esse abba diie Wüzzken, Kinda“ sagte. Würstchen waren gemeint, klar, es war wirklich lustig, wie sie das aussprach. Also aßen und zupften wir brav, rauchten trotzdem und ließen uns befummeln, freilich nicht mehr, denn zuhause warteten unsere Freunde, meiner beim Bund, Marias in Heidelberg, wo er studierte. In unserem Doppelbett gefiel es mir, wie sie so neben mir lag in ihrem kurzen weißen Baumwollnachthemd mit der feinen Spitze am Ausschnitt, die Zähne frisch geputzt, ihr Haar überall auf und unter mir, wie meins auf ihr, denn wir trugen es beide bis zum Arsch.

„Willst du mich richtig küssen?“ Das war sie. Es kam ziemlich überraschend, wir hatten uns über uralte Schwarz-Weiß-Filme unterhalten und fortwährend darüber gekichert, wie Bogart und Bergmann und Grant und Kelly ihre Lippen aufeinander drückten, so ganz offensichtlich bemüht ohne Zunge, eifrig darauf bedacht, Leidenschaft zu zeigen, die vermutlich nur hinter den Kulissen stattfand. Wir hatten es ihnen gleichgetan, pressten kichernd den eigenen Mund gegen den anderen und lachten über unser Spiel, bis sie mich fragte. Und ich sah sie nur an, so klein, so schön sie war, herrlich schwarze Augen, dunkelbraune Haut, abgekaute Fingernägel, trotzdem lackiert; Brüste wie dicke, knackige Äpfel, fast zu groß für ihre Statur, überall rasiert, nur die Brauen halbherzig, das wusste ich. Ich sagte nichts, öffnete nur meine Lippen und strich sanft mit meiner Zungenspitze über ihre, war erschrocken und glücklich, als sie keinen Widerstand leistete, drang behutsam in sie ein, umkreiste mit meiner Zunge ihre, und sie war bereit für diesen einmaligen Kuss, der meinen Körper so lebendig machte wie ein Elixier, das nach sehr viel mehr schreit und dich durstig macht auf Zuckerwasser. Sie ließ mich ihre Brüste streicheln, ich war so behutsam mit ihr wie mit einem zerbrechlichen Säugling, knabberte an ihnen und wollte meine Hände wandern lassen bis hinunter zu ihrem Slip, wollte ihn beiseite schieben, meine Finger eintunken … Sie schob mich weg. „Nicht weiter. Bitte.“ Augenblicklich fühlte ich mich ernüchtert. Ich war zu unerfahren, um ihre Befangenheit – war es Abneigung oder Angst? – bedenkenlos beiseite schieben zu können, wusste nichts von der Kunst, wortlos überreden zu können. Hätte ich einfach weiter machen sollen? Sie atmete schwer, immer noch neben mir, immer noch mit meinem linken Arm unter ihrem Kopf. Ich biss mir auf die Lippen, viel zu fest, es tat weh, ich schmeckte Blut und traute mich nicht, zu fragen. Sie sagte: „Ich will das vergessen.“ Und ich küsste sie sanft, ganz sanft auf die Stirn und sagte: „Dann vergiss es, Maria.“

Mein Sommer mit Gabriela war ein anderer. Ich war nur unwesentlich kühner, selbstbewusster als mit siebzehn, aber dieses Mal war ich die Verführte, gefiel mir in der passiven Rolle der so sanft und doch so fordernd Überwältigten und wusste gleichzeitig, dass ich mir nichts sehnlicher gewünscht hatte. Tatsächlich belog ich mich, indem ich mich selbst davon zu überzeugen versuchte, unfreiwillig eine Geschichte zu erleben, die nicht sein durfte. Dachte ich. Heute sehe ich mich klar und deutlich vor mir, sehe mich nackt und höre mich stöhnen, und es ist der pure Genuss, der mir diese glücklich gestammelten Laute entlockt, für die ich mich niemals wieder schämen würde. Hätte ich damals Marias Bitte, nicht fortzufahren, ignorieren sollen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass Gabriela es nicht akzeptiert hätte, wäre ich unsicher vor ihr zurückgewichen, als sie meine Brüste mit diesem scheußlich-schönen Wein nässte, den wir mit zum Baggersee genommen hatten, um ihn – widerlich aufgewärmt von der Sonne, die ihn nicht besser machte – auf unseren ausgebreiteten Handtüchern tranken. Es war heiß, wir waren zu faul, um uns mit der Pflichtlektüre zu beschäftigen, die wir eingesteckt hatten, und das Bad im See war weniger erfrischend denn ermüdend gewesen. Wir lagen dort nebeneinander, nur mit dem Bikini-Slip bekleidet, daran störte sich niemand, teilten uns eine Zigarette und verdrehten die Augen, wenn wir einen Schluck aus der Flasche nahmen. Den Rest schüttete sie über meine Brüste, es kam zu plötzlich, um irgendwie richtig oder auch falsch reagieren zu können, und sie lachte und beugte sich über mich, schleckte den Wein von mir ab und liebkoste dabei, nur für Sekunden, meine Warzen mit ihren Lippen, als wären wir allein oder unsichtbar. Oder einfach nur wir. „Göttlich. Ich könnte dich mit einem Strohhalm aufsaugen.“ Sagte sie, lachte, küsste mich wie unzählige Male zuvor auf den Mund, sah mich an, sagte: „Mach ihn auf.“ Es war Maria, die mir einfiel, ich sah sie wieder vor, neben, unter mir, und doch war es Gabriela, deren Zunge ich erlaubte, in mir sein zu dürfen. Und ich war mir bewusst, dass wir dort am See mit all den Unerwünschten um uns herum nicht liegen bleiben konnten. Während wir uns küssten, spürte ich ihre Brüste an meinen, es war, als würden die Spitzen sich wie selbstverständlich treffen, um sich zu umtanzen, und ich wollte nur noch weg. Wollte mit ihr zusammen sein in dem großen Rattanbett mit dem einäugigen Riesenteddy zwischen den Kopfkissen, der ein Geschenk von Christoph war und den ich in die hinterste Ecke des Miniatur-Schlafzimmers meiner Freunde werfen wollte, um nicht an den Mann erinnert zu werden, den ich mochte und trotzdem verfluchte.

Mit der Linie 223 fuhren wir zurück, schwiegen und schauten und lächelten und schwiegen wieder, wie frisch Verliebte das machen, die noch keine Worte brauchen, um Nähe zu definieren. Ich war verlegen, ich glaube, auch sie, obgleich Gabriela zwischendurch scherzte – irgendein dummes Zeug – was ich nicht konnte, weil ich ihre Finger und ihren Mund betrachtete. Ich traute mich nicht, sie im Bus während unserer Heimfahrt zu berühren, ängstlich, mich zu verraten, voller Panik, zu erröten vor all den fremden Blicken der Mitreisenden, von denen ich glaubte, sie wüssten, was wir vorhatten.

Es war später Nachmittag, als wir nebeneinander lagen, um uns gegenseitig atmen zu hören. Wir sprachen nicht, lagen nur da, rauchten und tranken gelben Sekt, der keine Kohlensäure hatte und kaum gekühlt war. Und ich dachte: Gott, lass es immer so sein. Ich möchte nackt mit Gabriela auf einer Wiese schlummern, möchte Mohnblumen riechen und sie einfach nur spüren, will sie überall und auf ewig küssen, fühlen, schmecken, will ihre Hände, ihr Haar, ihre Lippen konservieren, hinter Glas sperren, mir nehmen, wann immer ich es möchte. Ich dachte an Bernd, nur sehr kurz, der Gedanke, sein Bild schlich sich widerwillig ein, dachte an seine trockenen Sätze: „Wieso kommst du nicht? Was dauert das denn?“ Mit Gabriela dauerte es nicht. Und heute schenke ich mir selbst, was sie mir vergönnt hat: Nicht uneigennützig, aber so großzügig, wie nur ich selbst zu mir sein kann.

Dieser Sommer mit Gabriela war auch ein Sommer mit Christoph. Er gab uns das Feste, das Harte, das wir vielleicht nicht brauchten, das aber angenehm war. Weil wir durch ihn, der bereitwillig so oft zwischen, neben uns lag, doch immer wieder Hoffnung hatten, nicht durchweg füreinander bestimmt zu sein. Gabriela wünschte sich Kinder. Christoph auch. Ich nicht. Und irgendwann war es vorbei.

Im Herbst lernte ich Frank kennen. Drei Jahre später heirateten wir, nach sieben folgenden dunklen Jahren war es aus. Vielleicht bin ich unfair: Es gab auch gute Momente. Keine Schwangerschaft, zum Glück. Irgendwann muss ich ihn mir angesehen haben, zum ersten Mal wirklich, diesen Mann an meiner Seite, der sich selbst so liebte, wie ich nie geliebt habe. Auch Gabriela nicht. Oder doch? Es war nur ein Sommer. Vielleicht kommt ein zweiter, der mich verbrennt. Ich habe Gregor kennen gelernt. Und Hanna. Ich entscheide mich, wenn einer von beiden mir sagt: „Du schmeckst wie Freiheit. Wie die Erde, unter der wir einmal liegen werden.“ Dann weiß ich, dass ich am Ziel bin.

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Stichwörter:
Kurzgeschichte, Karin Reddemann, Liebesgeschichte, Eva

Written by Ronald

18. März 2017 at 10:26

Christian Heynk: Das Kalb

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Das Kalb

© Christian Heynk

Robin kam nach Hause, schleuderte den Rucksack in die Ecke und setzte sich an den Küchentisch.
„Wie war’s?“, fragte die Mutter.
„War ok!“, sagte Robin und meinte es auch so. Tatsächlich dachte er über die Vorfälle am Morgen nicht groß nach. Er hatte sich ein bisschen mit Nico gekebbelt, er hatte das Pausenbrot an einer Tankstelle auf dem Weg in den Mülleimer geworfen, und hatte sich auf dem Gehöft des Bauern mehrmals in die Nähe von Svenja zu begeben versucht, bisweilen, um einen Blick auf ihre schönen, jungen Beine zu erhaschen, bisweilen, um mit ihr irgendwie ins Gespräch zu kommen. Aber eigentlich hatte der Morgen keinen großen Eindruck hinterlassen. Wenn überhaupt, dann war Robin sich nun sicher, dass er kein Bauer werden wollte. Insofern hatte der Morgen einen kleinen Beitrag zu seiner Berufsfindung geleistet, mehr aber auch nicht.
„Na, erzähl doch mal!“
„Oh, Mama!“, erwiderte Robin genervt, „es war ok, ok?“.
Robins Mutter lächelte gequält. Egal, wie oft sie sich sagte, dass er in der Pubertät sei und seine Wortkargheit nur natürlich, versetzte es ihr doch immer einen kleinen Stich, wenn er so schroff zu ihr war. In solchen Momenten besah sie sich ihn sehr genau, diesen pickligen, kleinen Jungen, frech, rotzig und hilflos, wie er das liebevoll zubereitete Essen hastig und leicht angewidert in sich hinein schaufelte. Sie besah sich seine Kraterpickel mit den verkrusteten Rändern, und die abgenutzte Baseballkappe, die er zum Essen noch abnahm. Sie besah sich ihn und empfand trotz allem noch Liebe für ihn. Ihr Mutterherz schlug immer noch für dieses kleine Monster, weil sie hinter all dem Gehabe ihres Sohnes diesen Funken Anstand aufsprühen sah, der sie versicherte: Mein Junge ist ein guter Kerl.

Und das war er auch: Robin war ein guter Kerl.

*

„Es bewegt sich nicht“, hatte Svenja gesagt. „Wieso bewegt es sich nicht?“, hatte sie dann gefragt. Aber sowohl sie als auch ihre Mitschüler kannten die Antwort. Sie war in den Köpfen der Mitschüler noch nicht formuliert, keiner sagte den Satz, der die Situation beschrieb, in Gedanken vor sich her. Aber alle spürten instinktiv, was passiert war. Der erschöpfte Ausdruck des Bauern und die konsternierten Blicke der Lehrerin sprachen Bände.

*

Bei Annabell lag die Sache ganz anders. Sie kam verheult nach Hause. So verheult, dass ihre Mutter sie erst einmal in den Arm nehmen musste.
„Was ist denn los, mein Kind?“, fragte Annabells Mutter.
Aber nun, da Annabell den schützenden Hafen ‚Familie‘ erreicht hatte, brachen all die aufgestauten Emotionen erst recht aus ihr hervor. Die Fahrt im Bus über, und den ganzen Weg nach Hause hatte sie sich zusammengerissen, gerade vor den Jungs hatte sie sich keine Blöße geben wollen, aber die Gedanken waren in ihrem Kopf umher gewirbelt, ungreifbar, und schon gar nicht zu ordnen. Und das, was der Anblick des Kalbs in ihr ausgelöst hatte, verfinsterte ihr Seelenleben.
Sie schluchzte laut, dann quollen die Tränen wie Wasser aus undichten Leitungen hervor, erst zögerlich, dann druckvoll. Begleitet wurden diese Tränen und dieses laute Schluchzen von den Bewegungen eines zitternden, zarten Körpers. Konvulsionen des Torsos wechselten sich mit nachgebenden Beinen ab.
„Was ist denn passiert, mein Kind?“, fragte Annabells Mutter erneut, und strich ihrem Kind behutsam über den Kopf. Fast drei Minuten lang wiederholtes sie diese Frage, wie ein Mantra, und immer und immer wieder fuhr sie mit ihrer Hand über den blonden Schopf ihrer Tochter. Erfahrungsgemäß stellte sich dann irgendwann bei dem Kind so etwas wie Beruhigung ein, aber Annabells Mutter war schon erstaunt, wie lange es diesmal dauerte. Sie fragte sich, ungeduldiger werdend, was auf dem Bauernhof passiert sein mochte.
„Bringst du mich ins Bett?“, fragte Annabell unvermittelt.
„Du willst jetzt schlafen?“, fragte Annabells Mutter verwundert. „Es ist vier Uhr!“
„Ich will mich nur kurz ausruhen, Mama! Bitte!“
Annabells Mutter wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Einerseits war sie gewillt, dem Wunsch ihrer Tochter nachzugeben, andrerseits fielen ihr die Worte ihres Mannes wieder ein.
„Du verzärtelst sie“, hatte er gesagt. „Du musst lernen, dass du sie vor der Welt nicht beschützen kannst. Lass sie ihre Erfahrungen machen, sie wird es schon überleben. Und das wird sie stärker machen!“
„Komm“, sagte Annabells Mutter, „wir trinken jetzt einen Tee und dann erzählst du mir, was passiert ist, okay!“
Annabell schluckte laut, dann nickte sie behutsam.
„Aber ich will einen heißen Kakao, mit Sahne“, forderte sie.
„Bekommst du“, sagte die Mutter.

*

„Boäh, wat stinkt dat hier!“, hatte Robin bei der Ankunft auf dem Bauernhof gesagt. „Nico, hast du einen fahren lassen?“.
Robin hatte diese Frage extra laut gestellt und dann hämisch gelacht. Gleichzeitig schielte er zu Svenja hinüber. Lachte sie? Drehte sie sich zu ihm um?
Nein. Sie ging mit Annabell und Kirsten Richtung Hof. Dort stand der Bauer mit mächtigen Unterarmen und großen Pranken. Er trug eine blaue Latzhose und schwarze Gummistiefel. Er war fett und hatte ein rundes Gesicht. Er wirkte gutmütig und gelassen. Die meisten Kinder mochten ihn augenblicklich.
„No, Kinder“, sagte er. „Genießts ühr die Landluft?“

*

Nico kam zurück in ein leeres Haus. Er stand im Flur, die Haustür fiel ins Schloss und das dadurch erzeugte Geräusch verhallte im mit Marmorfliesen ausgelegten Gang. Er ging in die Küche und öffnete den großen Kühlschrank. Für gewöhnlich kochte seine Mutter für die Woche vor, aber diese Woche war sie mit dem Vater in den USA, und so befand sich nur Tiefkühlkost im obersten Fach. Großzügig wie Nicos Eltern nun einmal waren, hatten sie ihm hundertfünfzig Euro für die Woche ihrer Abwesenheit dagelassen. Am Mittwoch würde Nicos älterer Bruder, der schon studierte und nicht mehr zuhause wohnte, vorbeikommen und ihm eventuell mehr Geld geben, sollten die hundertfünfzig Euro aus unerfindlichen Gründen nicht reichen.
Nico rief den Pizzalieferservice an. Er kannte die Nummer auswendig, schließlich hatte er diesen Lieferservice schon des Öfteren bemüht, um seinen Hunger zu stillen.
„Einmal Saltimbocca alla Romana, bitte!“, sagte Nico, als am anderen Ende der Leitung die entsprechende Frage kam.
„Wir haben heute auch Kalbsfilet im Angebot!“.
Bei dem Wort Kalb wurde Nico ein wenig übel. Kalb, dachte er. Nach heute Morgen weiß ich gar nicht, ob ich je wieder Kalb essen kann. Dann überlegte er, ob Saltimbocca nicht auch aus Kalb oder Rind war. Er traute sich nicht zu fragen, sondern bestätigte stattdessen einfach nochmal die Bestellung.
„Nein, ich bleibe beim Saltimbocca!“
„Wir sind in fünfundzwanzig Minuten da!“
„Ok!“

Nach dem Essen ging Nico in sein Zimmer. Er machte sich sofort an die Hausaufgaben. Er war für sein Alter sehr diszipliniert und er las ungewöhnlich viel, vor allem Jugendromane. Von einem Freund seines Vaters hatte er ‚Der Fänger im Roggen‘ geschenkt bekommen. Er hatte es schon zur Hälfte durch.
Er hatte sich mittlerweile an das Alleinsein gewöhnt. Man konnte fast meinen, er mochte es. Das große, schöne Haus, die teuren Möbel aus Holz, der saubere Boden und die Aufgeräumtheit der einzelnen Zimmer gaben ihm das Gefühl, in einem Hotel zu leben.
Als er mit den Hausaufgaben fertig war, ging er mit dem Buch nach unten ins Wohnzimmer. Er zündete einen Holzscheit im Kaminofen an, machte es sich auf der Couch bequem, breitete die Kaschmirdecke über seine Beine und Füße, und schlug das Buch auf.
Unmittelbar bevor er zu lesen begann, kehrten seine Gedanken plötzlich zu dem Morgen zurück. In seinem Kopf spielten sich nochmals die Szenen ab. Die Fahrt zum Hof, die Kichereien der Mädchen, der Geruch der Ställe, die etwas klobig und wenig feinsinnig wirkend Menschen am Hof und das Kalb.
Das Kalb.
Nico hatte noch nie erlebt, wie die Stimmung einer Gemeinschaft, einer Gruppe von Leuten sich so schnell änderte. Eben hatten er und seine Mitschüler noch laut gelacht, feixend gegrinst und neugierig und interessiert zum Bauern geguckt. Sie hatten ihre Sprüche gemacht, immer darauf bedacht, dass die Mädchen die Sprüche auch hörten, und nach jedem Spruch zu den Mädchen herüber geschielt, um zu sehen, ob sie ein Lächeln auf die schönen Lippen der jungen Mädchen gezaubert hatten.
Auch Nico war in Svenja verknallt, aber Robin hatte so etwas wie ein unausgesprochenes Vorrecht. Dabei schien es Nico eher so, als interessiere sich Svenja mehr für ihn als für Robin. Aber sicher war er sich nicht.
Jedenfalls, als das Kalb auf dem Boden lag, und als Svenja diese ziemlich dämliche Frage stellte, war plötzlich etwas mit ihnen allen passiert. Es kam Nico nun vor, als hätte der Himmel sich plötzlich zugezogen, als hätten Donner und Blitz unsichtbar über dem Hof eingeschlagen, und als wäre lähmende Elektrizität durch die Körper aller Umstehenden gefahren. Nico erinnerte sich an diesen Moment, den er von Schweigeminuten im Fernsehen kannte. Plötzlich waren die Laute verstummt, plötzlich war es still geworden. Keiner rührte sich. Und diese stille Untätigkeit schien unendlich, dabei dauerte sie tatsächlich nur wenige Sekunden. Nico glaubte, dass etwas mit ihnen passiert war. Sie hatten etwas gesehen, und sie waren aufgrund des Gesehenen nicht mehr dieselben Kinder wie vorher.

Nico realisierte das. Er war ja nicht dumm. Er konnte schon viele Dinge aussprechen, die manche seiner Mitschüler nur dumpf empfanden.

*

„Ihr hobst Glück hait“, hatte der Bauer gesagt. „Die Berta kalbt nämlich hait!“
„Wat sacht der“, fragte Robin. „Ich versteh den gar nich!“
„Er hat gesagt, dass eine Kuh heut ihr Junges zur Welt bringen wird. Sie kalbt!“, erwiderte die Lehrerin in ihrer klaren, deutlichen Sprache. Sie zog die Wörter immer etwas, um sie besser verständlich zu machen, aber den Schülern ging diese Art des Sprechens manchmal auf die Nerven. Auch wenn sie ihre Klassenlehrerin eigentlich ganz nett finden.
„Gonz rächt!“, sagte der Bauer wieder. „Die Buerta krigt oa kind, verstehts!“
Die Schüler fanden den Dialekt des Bauern lustig.
„Ich glaub, das ist Schwäbisch!“, sagte Nico.
„Nee, Boirisch“, äffte Malte den Bauern nach. Sie lachten.
„Schauts euch örst oimal um, ich ruof oich dann wenns sowoit is!“, sagte der Bauer.
Die Schüler verteilten sich über den Hof.

*

Als Svenja nach Hause kam, saß die Familie schon am Mittagstisch. Die Mutter kam sogleich auf sie zu, herzte sie und nahm ihr die Jacke ab.
„Wir haben schon auf dich gewartet!“, sagte die Mutter. „Wie war’s auf dem Bauernhof!“
„Ein Kalb ist tot geboren worden“, sagte Svenja. Sie klang nüchtern, aber wie sie den Satz sagte, wurde ihr etwas anders zumute.
Svenjas Mutter fiel die Kinnlade herunter.
„Was?“, fragte sie entgeistert.
„Naja“, sagte Svenja. „Wir haben uns die Geburt eines Kalbs angesehen. Aber es war eine Totgeburt!“
Svenjas Mutter rang nach Worten.
„Und…und…und du hast das gesehen?!“, sagte sie, und man erkannte an ihrer Stimmlage, dass das anfängliche Entsetzen bald überschäumender Wut Platz machen würde.
„Ja!“, sagte Svenja lakonisch. Sie schluckte. Es war als sprang das Entsetzen und die Entrüstung ihrer Mutter nun auf sie über.
„Und … die Lehrerin?“
„Wie … die Lehrerin?“
Svenja wusste nicht, worauf sie hinaus wollte.
„Na, was hat die Lehrerin gemacht?“
„Na, nichts. Zugeguckt!“, erwiderte Svenja.
„Das geht doch nicht. Sie hätte etwas tun müssen. Sie hätte euch wegschicken müssen, oder die Tür zum Stall schließen müssen, oder das tote Kalb abdecken müssen!“
Svenja überlegte. Hatte die Lehrerin falsch reagiert? Niemand von den Mitschülern hatte der Lehrerin Vorwürfe gemacht. Aber warum regte ihre Mutter sich so auf? Vielleicht hatte die Lehrerin ja wirklich etwas tun müssen? Svenja realisierte, dass ihre Antwort eine Bedeutung haben könnte.
„Nein, sie hat nichts gemacht“, sagte Svenja. „Sie hat einfach nur zugeguckt!“

*

„Kommts alle mol her!“, hatte der Bauer über den Hof gerufen.
In Windeseile waren die Kinder herbeigeeilt. Das wollten sie sich nicht entgehen lassen.
Als sie bei der dicken Berta ankamen, lag diese schon im Stroh. Die Vorderläufe des Kalbs lugten schon hervor. Der Bauer stand nur daneben und tat nichts.
„Müssen sie ihr nicht helfen?“, fragte Annabell forsch.
„Iwo, die schofft des scho‘ alloine“, sagte der Bauer.
„Wieso ist sie denn in ein Kondom eingewickelt“, fragte Robin grinsend. Die Jungs lachten.
„Des is kein Kondom“, griente der Bauer. „Des is die Fruchtblase!“
Berta gab ein lautes Muhen von sich. Kurz drauf traten die Vorderbeine des Kalbs langsam aus der Schamspalte.
„Des sind die Austroibungswehn‘“, sagte der Bauer und gefiel sich sichtlich als Lehrer.
Eine Weile passierte gar nichts.
Dann, nach zehn Minuten, presste Bertha erneut. Die Fruchtblase platzte und das Maul des Kalbes war zu erkennen. Anabell und Svenja waren zugleich angewidert und fasziniert von dem Schauspiel. Iiiiiiih, sagten sie, und Eklig, aber trotzdem konnten sie sich von dem Spektakel nicht lösen. Robin, Nico und die anderen Jungs sagten nichts. Sie versuchten cool und abgeklärt zu wirken, auch wenn es in manchen Bäuchen schon rumorte.
Das Widerwärtigste war die schleimige Blase, die das Kalb umgab. Robin dachte an den Film Alien, Nico an einen Film, dessen Titel ihm nicht mehr einfiel, aber in dem es um einen gefräßigen Wackelpudding ging, der sich über die Bewohner einer amerikanischen Kleinstadt hermachte. Svenja und Annabell ekelten und fürchteten sich vor allem wegen des Blutes, das sich mit der gallertartigen Masse der Fruchtblasse vermischte und von langen, ledernen Strängen tropfte, die wie freigelegte Blutadern aussahen.
Bertha bekam erneut eine Presswehe. Bei dieser Wehe ging alles sehr schnell, das Kalb flutschte geradezu der Länge nach aus der Schamspalte.

Die Schüler klatschten. Der Bauer jedoch beachtete die Schüler nun nicht mehr und trat näher an das Kalb heran. Berta stand schnell auf und begann, das Kalb abzulecken.

„Es bewegt sich nicht“, sagte Svenja. „Wieso bewegt es sich nicht!“

Das Kalb lag leblos im Stroh. Der Bauer hatte sein freundliches Grinsen verloren. Die Lehrerin schien ebenfalls konsterniert, fasste sich aber dann und bat die Kinder, wieder auf den Hof zu gehen. Robin und Nico gingen nebeneinander her. Robin überlegte, einen Witz zu machen, um Abgebrühtheit zu demonstrieren und die Situation aufzulockern. Nico dachte und sagte nichts. Annabell lief leicht verstört zurück zum Hof. Irgendwie war sie tief berührt gewesen von dem Anblick des toten Kalbes, aber unterdrückte die aufquellenden Tränen so gut es eben ging. Svenja fragte die Lehrerin, ob man nun den Tierarzt rufen müsse.

Die Lehrerin schaute Svenja an. Sie wirkte abwesend.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie schließlich.

***


Buchtipp
Wer mehr von Christian Heynk lesen möchte, findet die Kurzgeschichte „Scharlachroter Honigesser“ in dem Buch
Der Mann, der vergewaltigt wurde
Der Mann, der vergewaltigt wurde
und andere Geschichten

***

Written by Ronald

3. Februar 2010 at 10:16

Günter J. Matthia: Sprachlos

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Sprachlos

© Günter J. Matthia

Die Finger bewegten sich nur Zentimeter über der Tastatur, doch fanden sie kein Ziel. Es mangelte an Befehlen vom Gehirn, weil dem Gehirn Worte mangelten, die niederzuschreiben sich gelohnt hätte. Satzfetzen, Bruchstücke von Gedanken, Handlungsfäden, die richtungslos waren, literarische Sackgassen von erstaunlich kurzen Dimensionen waren alles, was der Autor finden konnte. Er wollte schreiben, aber er wusste nicht worüber.

Dies war in der Vergangenheit keine Hürde gewesen, die er als unüberwindlich empfunden hätte. Oft entstanden seine Geschichten aus einem einzigen Satz – entwickelten sich beim Schreiben. So waren Erzählungen entstanden, deren Verlauf und Ende ihn selbst überrascht hatten, engen Freunden sagte er dann oft, die Geschichte hätte „sich selbst geschrieben“. Anderen Texten waren Überlegungen und Planungen vorausgegangen. Das Beunruhigende war jetzt, dass er zum ersten Mal seit er zurückdenken konnte weder einen Anfang fand noch irgendeine Vorstellung hatte, worüber er schreiben wollte.

Er sann über gelesene erste Sätze nach. The man in black fled across the desert … – hervorragend, aber nicht geeignet, denn gedanklich konnte er nichts an diese oder eine andere Flucht anschließen. Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem Frühlingsnachmittag … auch keine Hilfe, denn wenn man nichts zu schreiben weiß, hat man keinen Namen, der am Anfang des Manuskriptes stehen kann. Jeden Morgen, wenn er das Funkhaus betreten hatte, unterzog sich Murke einer existentiellen Turnübung: er sprang in den Paternosteraufzug … doch woher einen Schauplatz wie das Funkhaus nehmen? Fest gemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt … noch eine Sackgasse, aus der nur der Rückzug blieb.

Nichts wollte aus ihm heraus. Er war ein wortloser Autor. Er war ein sprachloser Schriftsteller. Der Begriff Schreibblockade tauchte mit zunehmender Häufigkeit in seinen Überlegungen auf. Er wies ihn zurück, verlachte ihn, zollte ihm keinerlei Respekt, doch ohne den gewünschten Erfolg. Aus Minuten wurden Viertelstunden, aus Viertelstunden ein schier endloser Vormittag. Schreibblockade. Schreibblockade. Du hast eine Schreibblockade.

Zum Trotz begann er, Sätze zu formen. Wie froh bin ich, dass ich hier bin! Schlimmster Feind, was ist das Herz des Menschen! Dich zu treffen, den ich so hasse … er hielt inne. Es war sinnlos, Goethe ins Gegenteil zu verkehren. Daraus würde nie eine Erzählung, die des Erzählens wert gewesen wäre. Schreibblocklade!

Die Frau im blauen Kleid floh über den Alexanderplatz und der Mechaniker folgte … mit Entsetzen betrachtete er dieses jämmerliche Plagiat und drückte erneut die Löschtaste. Schreibblockade. Du hast eine Schreibblockade.

Ich habe eine Schreibblockade. Er betrachtete den Satz und fand Gefallen an den vier Worten. Daher schreibe ich unter Nachkriegsbedingungen, leide Mangel an lebensnotwendiger Buchstabennahrung und unverzichtbarer Kapitelkleidung. Und doch werde ich überleben. Die Westmächte werden mir zu Hilfe eilen, mit Wortrosinenbombern und Satzüberlebensrationen.

Die Stirn gerunzelt las er die Zeilen, schüttelte den Kopf und schickte auch diesen Text ins unersättliche Datengrab. Die Westmächte nahmen ihn so wenig zur Kenntnis wie jene sprichwörtliche Muse, der er nie begegnet war, geschweige denn, dass er ihren Kuss auf den Lippen gespürt hätte. Oder küsste die Muse eher auf die Wange? Homer hatte eine Dreiheit von Musen gekannt, Hesiod sprach gar von neun verschiedenen Schutzgöttinnen der Künste. Mindestens drei von ihnen konnten einem Dichter zur notwendigen Inspiration verhelfen; vielleicht sollte er versuchen, Erato auf sich aufmerksam zu machen? Die Muse der Liebesdichtung … Liebesdichtung? Erdichtete Liebe oder Dichtung über die Liebe? Und welche Liebe? Die verhinderte, die einseitige, die erfüllte, die schal gewordene, die unersättliche, die hoffnungsvolle? Wie wählte man die Liebe aus, die zu beschreiben sich lohnte?

Vielleicht konnte der weise König Salomo ihn inspirieren, ihm wenigstens einen Anfang, ein paar erste Sätze schenken? Er nahm die Bibel aus dem Regal und blätterte, bis er den gesuchten Text fand. Er küsse mich mit Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist köstlicher als Wein. An Duft gar köstlich sind deine Salben; ausgegossenes Salböl ist dein Name. Darum lieben dich die Mädchen … konnte er die Bibelsprache übersetzen in einen zeitgemäßen Text? Köstlicher als Wein – das war auch heute noch verständlich. Die Sache mit dem Salböl schien schon schwieriger, doch das ausgegossene Salböl mit einem Namen zu verbinden schien ihm bereits unmöglich. Und überhaupt: Wieso stand da „er küsse mich“ und im nächsten Halbsatz „deine Liebe“? Er las weiter. Zieh mich dir nach, lass uns eilen! Der König möge mich in seine Gemächer führen! Wir wollen jubeln und uns freuen an dir, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein! Mit Recht liebt man dich …

Erneut diese Verwirrung der Personen. „Der König“ soll sie ziehen, aber „deine Liebe“ ist des Rühmens wert. Er kapitulierte vor dem König Salomo und seiner Sulamith, vor dieser Liebe, die so geheimnisumwoben über acht Kapitel zu entbrennen schien und doch keine Erfüllung fand, denn schließlich bat die Liebende am Ende: Enteile, mein Geliebter, und tu es der Gazelle gleich oder dem jungen Hirsch auf den Balsambergen!

Er blickte auf die Uhr. Der viele Wein im Hohelied der Liebe brachte ihn auf den Gedanken, dass ein Glas Rotwein seine innere Verkrampfung lockern mochte. Es war 11 Uhr. Alkohol am Vormittag war ihm bisher fremd gewesen. So sollte es, befand er schließlich, auch bleiben.

Er stand auf und verließ sein Arbeitszimmer, stand dann unschlüssig im Flur. Die Küche lockte ihn nicht, er verspürte weder Hunger noch Durst. Im Wohnzimmer lud das Sofa zum entspannten Lesen ein, doch das hatte er schon in den letzten Wochen ausgiebig getan, ohne selbst eine einzige brauchbare Zeile zu schreiben. Musik hören – auch danach war ihm nicht zumute. Der Tag war nicht ungewöhnlich warm, doch fühlte er sich verschwitzt. Er ging schließlich ins Badezimmer und entledigte sich seiner Kleidung. Dann trat er unter die Dusche und überließ sich dem heißen Wasser, genoss das beinahe schmerzliche Brennen auf der Haut. Seinen verkrampften Schultermuskeln verschaffte die Hitze spürbare Erleichterung, tief atmete er die dampfgeschwängerte feuchte Luft. Er griff zum Duschgel und wusch gründlich seinen Körper, während seine Gedanken zurückeilten.

Vor nunmehr über zehn Jahren hatte seine Frau mit der Videokamera anlässlich einer Urlaubsreise das Ferienhaus aufgenommen und war just in dem Moment in das ländlich ausgestaltete Badezimmer gekommen, als er unter der Dusche stand. Sie hatte den Vorhang beiseite gezogen und ließ die Kamera langsam an seinem nassen Körper nach unten gleiten, hielt jedoch inne, bevor das Bild die Region erfassen konnte, die Dritten nicht zu zeigen war. Sie schwenkte die Kamera zurück zu seinem Gesicht und widmete sich dann weiteren Räumen ihres Domizils.

Er lächelte anlässlich der Erinnerung und schloss die Augen, um die Seife aus den Haaren zu spülen. Er verharrte noch einige Augenblicke mit geschlossenen Lidern im heißen Wasserstrahl, bevor er sich abtrocknete und das Fenster öffnete, damit die feuchte Luft entweichen konnte.

Vielleicht konnte er eine Kurzgeschichte über einen Mann in der Dusche schreiben? Eine Figur ersinnen, die wegen der Seife die Augen geschlossen hielt und nicht bemerkte, dass jemand das Badezimmer betreten hatte? Dies eröffnete zahlreiche Möglichkeiten. Von der schönen und liebeswilligen Unbekannten bis zum feindlichen Agenten, der einem Mordauftrag nachzukommen gedachte. Von der Dusche konnte die Erzählung in ein wahlweise modernes oder altertümlich eingerichtetes Schlafzimmer führen, oder nach blutigem Zweikampf die Flucht vor weiteren übel gesonnenen Zeitgenossen schildern. Natürlich konnte auch das Badezimmer der einzige Schauplatz bleiben, auf welchem sich Zärtlichkeit oder Brutalität ereignen würde.

Ohne sich anzukleiden ging er zurück zu seinem Arbeitsplatz und begann, zu schreiben: Der Mann stand mit zusammengekniffenen Augen unter der Dusche. Schaum glitt über seine Schultern am Körper hinab, das Rauschen des Wassers überlagerte das leise Knarzen der Klinke jenseits des Duschvorhangs. Behutsam wurde die Tür geöffnet und mit geräuschlosen Schritten trat eine Gestalt in den Raum. Als der Mann den Luftzug auf der nassen Haut verspürte, wischte er notdürftig den Schaum aus den Augen und blickte in ein fremdes Gesicht. Vor ihm stand …

Weiter kam er nicht. Stand da eine Frau oder ein Mann? Jung oder alt? Bedrohlich oder anziehend? Schreibblockade! Du hast eine Schreibblockade.

Vor ihm stand eine junge Frau in einem leichten Sommerkleid, die mit verheißungsvollem Lächeln seine Blöße betrachtete.

Er löschte den Satz. Solch plumpe Formulierungen lagen ihm fern.

Vor ihm stand ein Herr mittleren Alters in einem tadellosen Abendanzug, der eine Pistole auf ihn gerichtet hielt.

Er tilgte auch diesen Satz und gab die Geschichte auf. Er war sprachlos. Wortlos. Satzlos. Inspirationslos. Musenlos.

Ein Spaziergang mochte Ablenkung bringen, so zog er sich schließlich wieder an und verließ ziellos das Haus. Aufmerksam musterte er die Menschen, die ihm begegneten, mochte doch aus einer zufälligen Begegnung eine Geschichte erwachsen, die zu erzählen lohnte. Ein Gesicht möglicherweise, dessen Ausdruck Rückschlüsse auf die erwartungsfrohe Stimmung zuließ, deren Grund Inhalt einer Geschichte sein konnte. Ein ungewöhnliches Bekleidungsstück, dessen Herkunft der Phantasie eine Erforschung gestattete. Ein Paar, dem die Liebe oder der Streit, deren Historie berichtenswert war, von weitem angesehen wurde. Eine einsame Person, deren Verlorenheit in der Welt er literarisch nachforschen konnte. Ein Kind, das Gedanken nachhing, die ungewöhnlich weit über sein Alter hinauswuchsen.

Er ging eine Stunde durch die Straßen, ohne dass auch nur die geringste Beobachtung ihn hätte interessieren oder gar inspirieren können.

Zurück am Schreibtisch öffnete er einige alte Dateien, überfolg sowohl gelungene als auch eher durchschnittliche Texte, die er geschrieben hatte. Doch auch das brachte ihn nicht weiter, führte nicht zu neuen Ideen oder alten Ideen, die er hätte frisch verpacken können. Im Grunde genommen gab es nicht viele Geschichten, es gab nur ein paar, die von vielen Autoren immer wieder in Variationen und mit unterschiedlichen Ausschmückungen erzählt wurden. Diese Handvoll Geschichten war nie langweilig geworden. Sicher gab es missglückte Ansätze und erbärmliche Versuche, peinliche Entgleisungen sowohl inhaltlicher als auch stilistischer Ausprägung. Daneben gab es aber die vielen hervorragenden Beispiele, wie man von der Liebe oder dem Kampf zwischen Gut und Böse berichten konnte, oder von Kombinationen dieser beiden Grundmuster. Eigentlich, überlegte er, gab es nur diese beiden Geschichten. Gut gegen Böse und die Liebe an und für sich – und das, was das Leben oder die Phantasie aus diesen Zutaten zu mischen vermochte.

Die Phantasie jedoch ließ ihn seit Wochen im Stich und das Leben mischte ebenfalls nichts, was er als Stoff für einen Text hätte erkennen können. Dabei warteten, das wusste er, zumindest seine treuen Leserinnen und Leser auf einen neuen Text. Er hatte in der Verlegenheit bereits ein Kapitel aus einem unvollendeten Buch als Auszug veröffentlicht, und dann noch ein Kapitel aus einem früheren Roman nachgeschoben, der inzwischen vergriffen war. Doch das waren Notlösungen, die ihn nicht zufrieden stellen konnten. Er wollte schreiben, aber er fand nur Dürre, wo sonst ein Brunnen der Inspiration gesprudelt hatte.

Er sah erneut auf die Uhr und befand, dass es nun angemessen spät war. Er schlenderte in die Küche, musterte das Weinregal und entkorkte schließlich eine Flasche französischen Rotwein, schenkte sich ein Glas ein und trank einen Schluck.

Dann ging er mit Glas und Flasche zurück zum Computer, öffnete entschlossen ein leeres Dokument und begann zu schreiben:

Die Finger bewegten sich nur Zentimeter über der Tastatur, doch fanden sie kein Ziel. Es mangelte an Befehlen vom Gehirn, weil dem Gehirn Worte mangelten, die niederzuschreiben sich gelohnt hätte …

***

Written by Ronald

3. Februar 2010 at 08:13

Patricia Koelle: Viktors Größe

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Patricia Koelle: Die Füße der Sterne

Patricia Koelle: Die Füße der Sterne

Viktors Größe

© Patricia Koelle

Es war so heiß, dass der Asphalt Sorgenfalten warf und mein Schweiß in die staubige Auguststille tropfte. Ich hob die Schaufel nur noch mechanisch. Die ganze Stadt um uns herum schien in einer regungslosen Mittagspause zusammengesunken, doch wir mussten mindestens noch drei Meter graben. Ingmar, der sich vom anderen Ende her auf mich zu arbeitete, hatte seinen Spaten fallen lassen und brachte mir die fünfte Wasserflasche des Tages. Ich schmeckte Sand auf der Zunge und sehnte mich danach, dass an der Uni das Semester wieder begann. Aber ich brauchte diesen Sommerjob. Wir waren dabei, die Mauer zu sanieren, die die Grenze zwischen dem Fabrikgelände und einer Obdachlosenherberge markierte. Dazu mussten wir den Boden am Fundament entlang einen Meter tief ausheben. Ich war froh, dass wir jetzt auf dieser Seite zu tun hatten. Das Grundstück der Fabrik war fast lückenlos zubetoniert, sodass das Hitzeflirren darüber zwar das strenge Gebäude wie eine versöhnliche Illusion erschienen ließ, der Luft aber jede Tauglichkeit zum Einatmen nahm. Um die Herberge hingegen breitete sich ein von jeder Pflege ungestörter Garten aus, der mir wie das Paradies selbst erschien, weil er beinahe grün war und nach den überreifen Äpfeln roch, die im Gras lagen.

Ingmar reichte mir die Flasche und nahm einen tiefen Schluck aus seiner eigenen. „Glaubst du, wir schaffen das noch diese Woche?“ Zweifelnd betrachtete er die Erdberge, die wir aufgeworfen hatten.

Plötzlich weiteten sich seine Augen. Angestrengt sah er über meine Schulter hinweg. „Vorsicht, Ralf!“, sagte er unterdrückt.

Hastig drehte ich mich um, während ein Schatten auf mich fiel. Ich bin mit meinen einsachtzig kein Zwerg, aber um dem Mann, der vor mir stand, ins Gesicht sehen zu können, musste ich den Kopf in den Nacken legen. Hinter meinem Rücken griff ich instinktiv nach meinem Spaten, obwohl mein unerwartetes Gegenüber diesen wahrscheinlich mit einer Hand zerbrechen könnte. Sein zerfranstes Unterhemd ließ keinen Zweifel offen, was seine Muskeln anging, und außerdem war er etwa doppelt so breit wie ich. Er war von unten bis oben tätowiert; Seeschlangen, Meerjungfrauen, Drachen und Haifische stritten sich auf Bizeps, Brust und Beinen um den immerhin beträchtlichen Platz. Durch seine rechte Augenbraue lief schräg eine Narbe. Sie verlieh ihm den Ausdruck, als würde er mich jeden Moment etwas Dringendes fragen. Er zog seine Hose hoch, spuckte über die Mauer und räusperte sich. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ingmar hinter mir einen Schritt zurück trat.

Der bunte Hüne bückte sich leicht und sah mir forschend ins Gesicht. „Hast du Regenwürmer gefunden?“, fragte er leise.

Ich war so verblüfft, dass ich erst mal einen Schluck aus der Flasche nahm, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

„Du musst doch Regenwürmer gefunden haben!“, sagte er bittend.

Ich konnte mich nicht erinnern, welche gesehen zu haben. „Nein, tut mir leid“, sagte ich höflich. „Willst du angeln gehen?“

„Angeln!“ Kopfschüttelnd ging er an uns vorbei.

Wir sahen ihm nach, während er entlang der Mauer die Erdhaufen untersuchte.

Wie diese Geschichte weitergeht, erfahren Sie in dem Buch

Patricia Koelle
Die Füße der Sterne

ISBN 978-3-939937-04-3
Die Füße der Sterne

Kurzbeschreibung
Die Sterne vom Himmel zu holen scheint unmöglich, doch manchmal sind sie plötzlich greifbar. Patricia Koelles Geschichten spüren sie dort auf, wo man sie nicht vermuten würde: oft mitten im angeblich grauen Alltag oder nur ein paar Schritte um die Ecke.

Klappentext
Abenteuer kann man erleben, ohne in der Ferne suchen zu müssen, und Helden finden sich häufig auf der Straße oder im Büro. Auch wenn diese Helden Falten im Gesicht oder ein Tattoo auf dem Arm haben und man sie erst spät erkennt, sind sie es doch wert, dass man ihnen eine Geschichte widmet. Vielleicht gehören wir ja selbst dazu. Für einen Hausmeister ändert sich das Leben, nur weil er einmal schwimmen geht. Ein Student begegnet jemandem, der furchterregend erscheint und den er schließlich aus ganz anderen Gründen nie vergessen wird. Eine Journalistin droht an der Zeit zu scheitern und entdeckt, dass diese verschiedene Farben hat und dass sich hinter jeder Farbe andere Möglichkeiten verbergen. Die Erfüllung eines Lebenstraums kann sich in einem braunen Pappkarton verbergen. Und ein einziger Mensch kann bewirken, dass sich die Sterne anders benehmen als sonst. Patricia Koelles Geschichten sind eine Lupe, die sichtbar werden lässt, wie groß Kleines sein kann. Es sind Geschichten für das verträumte Ende eines Feierabends, den Beginn eines Wochenendes oder die Bahnfahrt zur Arbeit. Geschichten von Himmel, Meer und Erde. Geschichten zum Lächeln, zum Nachdenken, zum Gesundwerden, zum Verschenken, voller Hoffnung und realistischem Zauber.

Written by Ronald

28. September 2008 at 12:56