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Marianne Schaefer: Spuren im Schnee

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Spuren im Schnee

© Marianne Schaefer

„Sie kommen! In einer Stunde geht’s los. Nehmt nur die Kinder und das Nötigste, alles andere lasst zurück. Ich sagte, alles. Und haltet sie ruhig.“ Die vermummte Gestalt hastete, vom eisigen Wind getrieben, durch ein kleines Dorf in Pommern.

Im Haus Nummer dreizehn packte Hedwig Gularek mit flatterndem Herzen ihre vier Kinder in warme Sachen. Der achtjährige Nachbarsjunge Aaron Wappler und sein Hund Joschi sahen mit großen Augen auf das geschäftige Treiben.

„Beeil dich, zieh dich an!“, forderte Frau Gularek den Jungen auf. „Jahnke wird nicht auf uns warten!“

Der Junge rührte sich nicht.

„Was ist? Warum machst du nicht weiter?“

„Aber ich hab doch nichts zum Anziehen, Tante Gularek“, kam es schüchtern aus seiner Ecke.

Irene, die Sechsjährige rief: „Aaron kann doch …!“ Weiter kam sie nicht. Frau Gularek brüllte sie an: „Wenn ich noch einmal diesen Namen höre, plätt ich dir eine, dass dir Hören und Sehen vergehen. Für uns heißt er Georg und ist der Sohn eurer Tante aus Berlin. Verstanden?“

Die Kinder blickten verständnislos.

Frau Gularek wandte sich wieder dem Jungen zu. „Stimmt ja, Georg“, sagte sie. „Such dir etwas von meinem Ältesten aus. Und sag nicht Tante Gularek zu mir. Du musst Mama sagen und du musst auf Irene aufpassen. Du darfst ihre Hand nie loslassen, unter keinen Umständen! Hörst du, Georg?“

Sie blickte in seine rot umränderten Augen, aus denen seit Tagen keine einzige Träne mehr floss. „Du musst, Georg! Ich flehe dich an!“

Georg nickte nur stumm.

„Wir müssen es schaffen“, dachte sie voller Angst, „wir müssen! Es wird keinem auffallen, wenn ich statt vier Kinder plötzlich eins mehr habe. Diejenigen, die es wissen, werden schweigen, denn sie haben ihn mir selbst anvertraut, als seine Familie abgeholt wurde.“ Nur in einer kinderreichen Familie könne er überleben, hatte der Bauer Hausknecht gesagt.

Joschi, Georgs Hund, sprang freudig voraus, als sich die Gruppe durch den tiefen Schnee zum Sammelplatz kämpfte.

„Ihr seid wohl verrückt geworden!“, schrie Jahnke die Kinder an. „Bringt den Hund zurück ins Haus und schließt ihn ein!“

Wortlos brachte Georg seinen Joschi zurück. Die Haustür des kleinen Siedlungshauses ließ er einen Spalt offen und stellte eine Zinkwanne davor. Mit etwas Ausdauer und Geschick konnte der Hund sich selbst befreien. Bis dahin waren sie weit genug weg.

Der Weg war lang! Die Beine der Kinder wurden schwer, die Hände waren steif gefroren. Irene und Georg hielten sich schon längst nicht mehr an den Händen. Aus der Ferne erklang dumpfes Grollen wie von einem nahenden Gewitter. Die Menschen stoppten voller Angst und setzten dann ihre Flucht noch hastiger fort.

Irene fiel hin. Keiner achtete auf sie. Sie rappelte sich hoch, stürzte wieder. In der Dunkelheit verlor sie die Richtung, irrte so lange umher, bis sie vor Müdigkeit in einer Schneewehe liegen blieb. Dicke Flocken deckten alles Unebene zu.

In das Grollen des näher rückenden Maschinengewehrfeuers und das Donnern der Geschütze mischte sich das Winseln eines Hundes. Irene spürte etwas Warmes, Feuchtes in ihrem Nacken, etwas, das sie schubste. Erschöpft hob sie den Kopf. Sie öffnete die verkrusteten Augen, sah einen sternklaren Himmel und blickte in zwei braune, zärtliche Hundeaugen. Georg Wapplers Hund! Joschi gab keine Ruhe. Er sprang um sie herum und zerrte an ihrer Jacke. Irene kroch schließlich auf allen vieren hinter Joschi durch den Schnee. Das Grollen rückte näher. Joschi duckte sich, er zog seinen Schwanz ein, ließ Irene keine Atempause und drängte weiter, weiter, weiter …

Als Irene erwachte, sah sie Georg und seinen Hund abgesondert von der Gruppe in einer Ecke sitzen. Jahnke stand vor ihm und drohte: „Der Hund muss weg! Er wird uns verraten!“ Georg packte Joschi fester und streichelte ihn. Ein Schwall fremder Laute drang an ihre Ohren. Joschis Fell sträubte sich, er knurrte gefährlich und fletschte die Zähne. Georg wollte ihm das Maul zuhalten, doch Jahnke riss den Hund an sich. Kurz darauf hörte sie verzweifeltes Bellen, dumpfe Hiebe, leiser werdendes Gejaule, Gewimmer … Stille!

Georg war außer sich, er sprang hastig auf und rannte kopflos in den Wald.

Ein Schuss krachte …

Zurück blieben Spuren im Schnee.

Diese Geschichte stammt aus dem Buch
Antastbar. Die Würde des Menschen
antastbar
Die Würde des Menschen
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-12-8

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Stichwörter:
Kurzgeschichte, Marianne Schäfer, Schnee, Krieg, Vertreibung, Flüchtlinge

Written by Ronald

18. März 2017 at 11:04